Dienstag, 30. Juli 2013

Hauptstadt der vergangenen Zukunft


Eine Stadt am Reißbrett entworfen, ohne Seele, sagen manche über die brasilianische Hauptstadt. Ein Mekka für Architektur-Interessierte und Denkmal der Moderne, sagen andere. Mich fasziniert die Vorstellung, dass Brasilia in nur 1000 Tagen im heißen, trockenen Inland aus dem roten Steppenboden gestampft wurde.

Als Ana, Maria und ihre Mitbewohnerin Sarah ein Sonderangebot bei einer brasilianischen Fluglinie entdecken, zögere ich deshalb nicht lange. Reisen ist nämlich teuer in Brasilien. Normalerweise oft zu teuer für die Brasilianer. Mit dem gleichen Angebot kommen Verwandte von Salome aus dem im Nordosten gelegenen Recife nach Rio. Über zehn Jahre hatten sie die dort lebenden Familienmitglieder nicht gesehen.

Sarah und ich überlassen den beiden Architekturstudentinnen die Planung. Die erweist sich als kompliziert: Die Adressen in Brasilia lauten etwa „SHS Q6, BI. F“ und stehen für den Sektor, dessen Funktion (etwa Regierungs-, Hotel- oder Einkaufsviertel), die Himmelsrichtung und den Block… oder so ähnlich. Straßennamen galten dem Architekten Oskar Niemeyer und dem Stadtplaner Lucio Costa Ende der 50er Jahre als antiquiert. Und in ihrer Vorstellung war die ideale Stadt funktional gegliedert, in Arbeits-, Wohn- und Vergnügungsviertel.

In Brasilia dürfen wir bei Verwandten von Sarahs brasilianischem Freund Neto schlafen, ein Glück, denn in Brasilia gibt es keine Jugendherbergen, sondern nur teure Hotels für Geschäftsreisende.

Brasilia von oben
Netos Cousin Lucas holt uns vom Flughafen ab und erklärt uns seinen Heimatort. Die Stadt ticke anders als der Rest Brasiliens. „In Brasilia funktionieren die Dinge“, sagt Lucas. Das heißt: An den Zebrastreifen bremsen die Autos, um die Fußgänger vorbeizulassen. An roten Ampeln wird gehalten. Es herrscht kein Menschen-Gewirr auf den Straßen. „Hier hat man viel mehr Platz als in Rio oder São Paulo“, erklärt Lucas. Diesen Platz nehme ich eher als eine trostlose Menschenleere wahr, als ich aus dem Fenster schaue. Keine Fußgänger weit und breit, nur Autos.

Lucas Mutter Patricia arbeitet im Abgeordnetenhaus, früher war sie Architektin. Ihr Haus hat sie selbst gebaut, es hat große Fensterfronten zum Garten hin, der direkt auf den Weg führt. Kein Stacheldraht, kein Zaun, nicht einmal eine Hecke. Doch die ungewohnte Offenheit des Hauses ist nicht etwa deshalb möglich, weil es in Brasilia keine Kriminalität gibt. Sondern weil das Haus in einer Gated Community liegt, einem geschlossenen überwachten Wohnkomplex. Statt Stacheldraht vor dem Haus sorgen am Eingang der abgeschotteten Siedlung Wächter für die Sicherheit. Und Schranken, die sich öffnen, wenn die Anwohner ihren Zeigefinger auf ein Lesegerät drücken.

Patricia nimmt uns mit dem Auto mit ins Regierungsviertel, in der Mittagspause und nach Feierabend kutschiert sie uns durch die Stadt. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind nämlich etwas, das nicht so gut funktioniert in Brasilia.

Wir parken an dem wohl berühmtesten Monument der Stadt, dem Nationalkongress. Zwei weiße Schüsseln, eine davon auf dem Kopf, dahinter zwei gewaltige Türme. Die Schale beherbergt den Senat, die Kuppel das Abgeordnetenhaus, in den Türmen sind Büros untergebracht.


Der Nationalkongress

Ein Mann mit neongelber Weste spricht uns an, er sammelt Geld fürs Parken. „Ist der von der Stadt?“, frage ich Patricia, denn ich kann mir in diesem offiziellen Umfeld keine Gaunerei vorstellen. Doch auch hier erweist sich Brasilia dann doch als nicht völlig anders als der Rest des Landes: Es handelt sich nicht um Parkraumbewirtschaftung, wie das auf Deutsch so schön heißt. Der Mann ist ein Arbeitsloser, der Geld dafür nimmt, auf das Auto „aufzupassen“. Wer nicht zahlt, dessen Auto stößt etwas zu, dafür sorgt der Aufpasser höchstpersönlich. Ein Geschäftsmodell, das in ganz Brasilien verbreitet ist, an großen Plätzen genauso wie an verlassenen Stränden.

Der Kongress ist von außen beeindruckender als von innen, denn die dunklen Teppiche schlucken das wenige Licht, das aus den spärlichen Fenstern ins Innere fällt. In der Kantine decken wir uns mit Brötchen und Müsliriegeln ein, denn Straßenstände oder Eckcafés gibt es nicht in Brasilia. Essen kriegt man in Shoppingcentern oder Vierteln, die für das Vergnügen und nicht für die Arbeit geplant wurden.


Das Nationalmuseum
Das Nationalmuseum erinnert an eine riesige Schnecke und ist von außen und innen sehenswert. Und das Außenministerium begeistert uns alle, mit seinen Glasfronten, geschwungenen Treppen, den Kunstwerken und dem Skulpturengarten auf dem Dach. Ana und Maria sind wehmütig: „Heutzutage darf man so eine frei schwebende Treppe wegen Sicherheitsvorkehrungen gar nicht mehr bauen“, erklären sie mir. Und auch sonst würde die denkmalgeschützten Bauten heute niemand mehr bewilligen, denn es fehlt an Brandschutz und behindertengerechten Zugängen.

Das Außenministerium

 Die Stadt der Zukunft ist heute also ein Monument vergangener Zeiten. Vieles ist heute anders, als es damals erdacht worden ist. 300 000 Menschen wohnen im geplanten Teil der Stadt -  2,3 Millionen in Satellitenstädten außerhalb. In denen sind die Lebensverhältnisse oft prekär. Auch sollte in jedem Häuserblock ein Supermarkt, eine Apotheke, ein Kindergarten zu finden sein. Stattdessen existieren heute bessere und schlechtere Viertel, die zwar architektonisch identisch sind, nicht aber, was Angebot, Infrastruktur und Sicherheit betrifft. 

Zwischen den beeindruckenden Bauten herrscht außerdem diese irritierende Leere, die mir gleich zu Anfang aufgefallen ist, denn die Stadt wurde für Autofahrer und nicht für Fußgänger erdacht, in einer Zeit, als Autos für Fortschritt standen und nicht für Staus und Umweltverschmutzung.

Nach zwei Tagen in der brasilianischen Hauptstadt lautet unser Fazit deshalb: Architektonisch beeindruckend, aber nicht lebenswert.

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