2. Monat
Als das Zentrum Niteróis auf dem Weg zu meinem Sprachkurs irgendwann
hinter uns liegt, sind Nele und ich plötzlich ganz allein auf der Straße. Auf dem Platz, den wir überqueren, lungern ein paar Männer
herum, alle schauen uns an, als wir
vorbeigehen. Einer von ihnen - abgerissene Klamotten, zottelige Haare, gerötete
Augen- spricht uns an, will ein Handy haben. Ich verstehe ihn nicht richtig und
wir laufen weiter.
Dann stehen drei Männer auf, nähern sich uns von hinten,
meine Schwester zischt mir zu „lass uns mal schneller laufen!“. Vor uns dreht
sich ein Passant regelmäßig nach uns um. Am Ende des Platzes angekommen,
spricht er uns an: „Ihr beiden wurdet gerade fast überfallen!“ Niemals sollten wir alleine diesen Weg
entlang laufen, rät er uns.
Es gibt also No-Go-Areas in Niterói, selbst bei Tag. Eine
unangenehme Erkenntnis ist das, die diesen letzten Tag mit meiner Schwester ein
wenig trübt. „Du kannst ja einfach immer die Parallelstraße nehmen!“, sagt sie
beim Abschied mit besorgter Stimme, bevor sie in den Bus zum Flughafen steigt.
In den nächsten Tagen höre ich ständig Warnungen, eine
bestimmte Straße zu meiden, nach Einbruch der Dunkelheit nicht alleine
herumzulaufen, nachts Taxi und nicht Bus zu fahren. Für solche Vorsichtsmaßnahmen gibt es gute Gründe: Die
Mordrate in Rio ist 60 Mal so hoch wie in Deutschland, das Ausmaß von Vergewaltigungen,
Entführungen und Überfällen erschreckend.
Neben der Statistik ängstigen mich aber auch Geschichten aus
erster Hand. Stephanie, brasilianische Geschichtsstudentin, wurde in
ihrem Leben schon sieben Mal überfallen. „Naja, ich bin halt klein und
schmächtig“, sagt sie. Meinen Kommilitonen Diego hat es drei Mal erwischt. „Ich
wohne eben in einer schlimmen Gegend, was soll ich machen?“, kommentiert er das
schulterzuckend. Und während meiner Zeit in Niterói verlängert sich die Liste
der schlimmen Geschichten: Salomes Sohn Wilson wird tagsüber im Bus überfallen,
mehrere Bekannte abends in Rio.
Etwa drei Wochen nach der Abreise meiner Schwester trinke ich nach dem Sprachkurs ein Bier mit Ana, Maria und Daniel aus Spanien. Schnell wird klar, dass wir alle verunsichert sind. Daniel berichtet, dass er sich beim Laufen alle paar Meter umdrehe, aus Sorge, jemand könnte sich ihm von hinten nähern.
Maria erzählt stolz: „Heute habe ich mich zum ersten Mal getraut, Schmuck anzuziehen, trotz all der Warnungen.“ Ich muss schmunzeln, denn ihre Kette ist selbst gebastelt und besteht aus plattgedrückten Bierdeckeln. Nicht gerade die Art von Schmuck, die Diebe anlockt.
Maria erzählt stolz: „Heute habe ich mich zum ersten Mal getraut, Schmuck anzuziehen, trotz all der Warnungen.“ Ich muss schmunzeln, denn ihre Kette ist selbst gebastelt und besteht aus plattgedrückten Bierdeckeln. Nicht gerade die Art von Schmuck, die Diebe anlockt.
Ich erzähle von dem schlechten Ruf, den mein Viertel hat –
wobei das relativ ist in Brasilien – und von den Gesprächen über meine
Wohngegend, die immer in etwa so aussehen: „Du wohnst echt in Fonseca?“, fragt mich mein jeweiliger
brasilianischer Gesprächspartner mit Entsetzen in der Stimme. Ich bejahe und
frage, was daran so schlimm ist. „Da ist es sehr gefährlich!“ „Echt?
Gefährlicher als in anderen Gegenden von Rio und Niterói?“, frage ich dann.
Nach kurzem Überlegen kommt die Antwort: „Nein.“
Daniel, Maria, Ana und ich lachen und die Anspannung der
letzten Tage und Wochen fällt von mir ab. Für uns alle ist das Leben in
Brasilien neu und beunruhigend; wir sind es nicht gewohnt, auf der Straße
achtsam sein zu müssen oder bestimmte Gegenden zu meiden. „Es tut gut, zu
merken, dass es euch auch so geht“, sagt Ana und ich weiß genau, was sie meint.
Und bei aller tatsächlicher Gefahr merke ich immer mehr: Die
Cariocas und die Bewohner von Niterói übertreiben gerne - nicht nur, wenn es um meine Wohngegend geht. So erklärt die brasilianische Mitbewohnerin von Rena, einer
anderen Studentin aus Tübingen, uns auf dem Weg zu einer Disko wild
gestikulierend:
Die befriedete Favela Vigidal |
„Hier ist es sehr gefährlich! Da hinten und da oben und hier
links Richtung Strand: Das sind alles Favelas!“ Das Wort „Favela“ flüstert sie,
es klingt mythisch und verschwörerisch. Sie zeigt auf eine Ansammlung von etwa
zehn illegal gebauten Häusern – auch das eine Favela, eine inoffiziell
errichtete Armensiedlung. Schwer vorzustellen, dass von dort eine Gefahr für
uns ausgehen soll.
Blick auf Rio von der Fähre, die Niterói und Rio verbindet |
Die Bewohner von Rio hingegen erklären den kleinen Nachbarn
zum bedrohlicheren Ort: „Seit die Polizei in den Favelas von Rio für WM und
Olympia aufräumt, fliehen die Drogenbosse alle nach Niterói“, erklärt mir ein
Freund von Stephanie mit mitleidigem Blick, ob der Gefahren, denen ich tagein
tagaus ausgesetzt bin.
vermeintlich gefährlicher Felsen (im Vordergrund, der hintere ist wirklich hoch) |
Diese Gefahren gehen aber nicht nur von Menschen aus,
sondern auch von der Natur, wie ich nach einiger Zeit in Brasilien erfahre. „Es
sind schon Menschen von dem einen Felsen dort gestürzt und haben sich schwer
verletzt, also pass auf“, ruft mir meine Vermieterin Salome hinterher, als ich
zum Strand fahre. Der besagte Felsen entpuppt sich als so niedrig, dass ich
mich frage, ob das stimmen kann.
Als es neulich regnete und stürmte, sagte Salome ihren
Arzttermin ab: „Es macht mir Angst, bei dem Wetter rauszugehen“, erklärt sie
Ricardo am Telefon (in Brasilien werden auch Ärzte und Professoren beim
Vornamen genannt).
Und so überprüfe ich mit der Zeit jede Warnung auf ihre
Plausibilität, streiche in Gedanken die ausschmückenden Adjektive und die
Steigerungsformen. Und lerne, mein Leben zumindest zu großen Teilen statt mit
Angst bloß mit Vorsicht zu genießen.
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