Montag, 15. Juli 2013

Alltag voller Angst



2. Monat

Als das Zentrum Niteróis auf dem Weg zu meinem Sprachkurs irgendwann hinter uns liegt, sind Nele und ich plötzlich ganz allein auf der Straße. Auf dem Platz, den wir überqueren, lungern ein paar Männer herum, alle schauen  uns an, als wir vorbeigehen. Einer von ihnen - abgerissene Klamotten, zottelige Haare, gerötete Augen- spricht uns an, will ein Handy haben. Ich verstehe ihn nicht richtig und wir laufen weiter. 

Dann stehen drei Männer auf, nähern sich uns von hinten, meine Schwester zischt mir zu „lass uns mal schneller laufen!“. Vor uns dreht sich ein Passant regelmäßig nach uns um. Am Ende des Platzes angekommen, spricht er uns an: „Ihr beiden wurdet gerade fast überfallen!“  Niemals sollten wir alleine diesen Weg entlang laufen, rät er uns. 

Es gibt also No-Go-Areas in Niterói, selbst bei Tag. Eine unangenehme Erkenntnis ist das, die diesen letzten Tag mit meiner Schwester ein wenig trübt. „Du kannst ja einfach immer die Parallelstraße nehmen!“, sagt sie beim Abschied mit besorgter Stimme, bevor sie in den Bus zum Flughafen steigt.

In den nächsten Tagen höre ich ständig Warnungen, eine bestimmte Straße zu meiden, nach Einbruch der Dunkelheit nicht alleine herumzulaufen, nachts Taxi und nicht Bus zu fahren. Für solche Vorsichtsmaßnahmen gibt es gute Gründe: Die Mordrate in Rio ist 60 Mal so hoch wie in Deutschland, das Ausmaß von Vergewaltigungen, Entführungen und Überfällen erschreckend. 

Neben der Statistik ängstigen mich aber auch Geschichten aus erster Hand. Stephanie, brasilianische Geschichtsstudentin, wurde in ihrem Leben schon sieben Mal überfallen. „Naja, ich bin halt klein und schmächtig“, sagt sie. Meinen Kommilitonen Diego hat es drei Mal erwischt. „Ich wohne eben in einer schlimmen Gegend, was soll ich machen?“, kommentiert er das schulterzuckend. Und während meiner Zeit in Niterói verlängert sich die Liste der schlimmen Geschichten: Salomes Sohn Wilson wird tagsüber im Bus überfallen, mehrere Bekannte abends in Rio. 

Etwa drei Wochen nach der Abreise meiner Schwester trinke ich nach dem Sprachkurs ein Bier mit Ana, Maria und Daniel aus Spanien. Schnell wird klar, dass wir alle verunsichert sind. Daniel berichtet, dass er sich beim Laufen alle paar Meter umdrehe, aus Sorge, jemand könnte sich ihm von hinten nähern.

Maria erzählt stolz: „Heute habe ich mich zum ersten Mal getraut, Schmuck anzuziehen, trotz all der Warnungen.“ Ich muss schmunzeln, denn ihre Kette ist selbst gebastelt und besteht aus plattgedrückten Bierdeckeln. Nicht gerade die Art von Schmuck, die Diebe anlockt.

Ich erzähle von dem schlechten Ruf, den mein Viertel hat – wobei das relativ ist in Brasilien – und von den Gesprächen über meine Wohngegend, die immer in etwa so aussehen: „Du wohnst echt in Fonseca?“, fragt mich mein jeweiliger brasilianischer Gesprächspartner mit Entsetzen in der Stimme. Ich bejahe und frage, was daran so schlimm ist. „Da ist es sehr gefährlich!“ „Echt? Gefährlicher als in anderen Gegenden von Rio und Niterói?“, frage ich dann. Nach kurzem Überlegen kommt die Antwort: „Nein.“

Daniel, Maria, Ana und ich lachen und die Anspannung der letzten Tage und Wochen fällt von mir ab. Für uns alle ist das Leben in Brasilien neu und beunruhigend; wir sind es nicht gewohnt, auf der Straße achtsam sein zu müssen oder bestimmte Gegenden zu meiden. „Es tut gut, zu merken, dass es euch auch so geht“, sagt Ana und ich weiß genau, was sie meint.

Und bei aller tatsächlicher Gefahr merke ich immer mehr: Die Cariocas und die Bewohner von Niterói übertreiben gerne  - nicht nur, wenn es um meine Wohngegend geht. So erklärt die brasilianische Mitbewohnerin von Rena, einer anderen Studentin aus Tübingen, uns auf dem Weg zu einer Disko wild gestikulierend:

Die befriedete Favela Vigidal
  „Hier ist es sehr gefährlich! Da hinten und da oben und hier links Richtung Strand: Das sind alles Favelas!“ Das Wort „Favela“ flüstert sie, es klingt mythisch und verschwörerisch. Sie zeigt auf eine Ansammlung von etwa zehn illegal gebauten Häusern – auch das eine Favela, eine inoffiziell errichtete Armensiedlung. Schwer vorzustellen, dass von dort eine Gefahr für uns ausgehen soll. 







Auch bezüglich der Frage, ob Niterói oder Rio die unsicherere Stadt ist, wird gerne mal etwas dramatisiert. „Lauft bitte alle zügig und bleibt nicht stehen. Wir sind jetzt in Rio und hier ist es gefährlich“, sagt etwa meine Lehrerin, als ich mit meinem Sprachkurs eine Kunstausstellung in Rio besuche. Ihre warnenden Worte spricht sie sofort, nachdem wir die Fähre verlassen haben, mit der man von Niterói in die große Nachbarstadt übersetzen kann.


Blick auf Rio von der Fähre, die Niterói und Rio verbindet

Die Bewohner von Rio hingegen erklären den kleinen Nachbarn zum bedrohlicheren Ort: „Seit die Polizei in den Favelas von Rio für WM und Olympia aufräumt, fliehen die Drogenbosse alle nach Niterói“, erklärt mir ein Freund von Stephanie mit mitleidigem Blick, ob der Gefahren, denen ich tagein tagaus ausgesetzt bin.


vermeintlich gefährlicher Felsen (im Vordergrund, der hintere ist wirklich hoch)
Diese Gefahren gehen aber nicht nur von Menschen aus, sondern auch von der Natur, wie ich nach einiger Zeit in Brasilien erfahre. „Es sind schon Menschen von dem einen Felsen dort gestürzt und haben sich schwer verletzt, also pass auf“, ruft mir meine Vermieterin Salome hinterher, als ich zum Strand fahre. Der besagte Felsen entpuppt sich als so niedrig, dass ich mich frage, ob das stimmen kann. 


Als es neulich regnete und stürmte, sagte Salome ihren Arzttermin ab: „Es macht mir Angst, bei dem Wetter rauszugehen“, erklärt sie Ricardo am Telefon (in Brasilien werden auch Ärzte und Professoren beim Vornamen genannt).

Und so überprüfe ich mit der Zeit jede Warnung auf ihre Plausibilität, streiche in Gedanken die ausschmückenden Adjektive und die Steigerungsformen. Und lerne, mein Leben zumindest zu großen Teilen statt mit Angst bloß mit Vorsicht zu genießen.

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