„E ai? Tudo bem? Morgen
komme ich in Rio an“, schreibt mir Pierre, ein französischer Freund, den
ich während meines Erasmus-Jahres in Spanien kennengelernt habe. Er hatte damals
mit zwei Brasilianern zusammen gewohnt und besucht jetzt die beiden und mich in
Brasilien. Die ersten Tage hat er in Salvador verbracht und offenbar schon eine
Lektion brasilianisches Portugiesisch genossen: „E ai?“ bedeutet übersetzt „und
hier?“ und wird im Sinne von „alles klar?“ verwendet. Mögliche Antworten sind
etwa „beleza“, was eigentlich Schönheit, in diesem Kontext aber „fabelhaft“
bedeutet und „tudo joia“ (oder „tudo joinha“), alles Schmuck. Fast jede
mündliche oder schriftliche Unterhaltung wird mit einem „e ai?“ begonnen, nach einer kurzen Schweigepause
kann es ein Gespräch außerdem zu neuem Leben erwecken.
Da Pierre, wie zuvor Georg, nicht in meiner Wohnung schlafen darf, kommt er bei Bekannten in Rio unter. Dort treffen wir uns und lassen uns den Complexo do Alemão zeigen, Dutzende zusammenhängende Favelas, zwischen denen noch vor wenigen Jahren Krieg herrschte. Jetzt wurden sie im Rahmen der Befriedungen durch eine Seilbahn miteinander verbunden. Im Gegensatz zu anderen Einsätzen, bei denen teilweise kein einziger Schuss fiel, starben im Complexo do Alemão viele Drogenbosse, als die Militärpolizei ihn besetzte. Von oben wirkt der Komplex wie eine ganze Stadt aus einfachen Backstein-Barracken, riesig, unübersichtlich und optimal für Angriffe aus dem Hinterhalt.
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Eine der Favelas des Komplexes |
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Die Seilbahn verbindet die zuvor verfeindeten Viertel |
Unsere Führerin Monique kommt
aus einer der Favelas des Komplexes. Sie hat Tourismus studiert, ängstlich,
niemals einen Job zu finden. Dann besetzte die Befriedungs-Polizei die Favela
und jetzt arbeitet sie als Fremdenführerin an ihrem Geburtsort. Kein Wunder
also, dass sie begeistert ist von dem Programm. Sie zeigt uns einen neu
erbauten Platz mit Kulturzentrum und Sprachschule, den die Bewohner scherzhaft
die „Südzone“ des Viertels nennen, in Anlehnung an die wohlhabenden Südviertel
Rios wie Copacabana, Ipanema und Leblon.
„Wenn mich früher jemand
gefragt hat, wo ich wohne, habe ich den Namen des Bezirks genannt, in dem meine
comunidade liegt, denn ich habe mich
geschämt, hier zu leben. Heute sage ich ‚im Complexo do Alemão‘ und die Leute
antworten ‚cool, das ist doch der mit der Seilbahn‘“, erzählt sie uns vergnügt.
„Comunidade“ heißt so viel wie Gemeinschaft und wird von den Bewohnern der Armensiedlungen
dem Ausdruck Favela vorgezogen.
Am Tag nach der Tour
reise ich mit Pierre nach São Paulo, viertgrößte
Stadt der Welt, in deren Metropolregion 18 Millionen Menschen leben. Ein ehemaliger Mitbewohner Pierres
wohnt dort und auch ein weiterer Erasmus-Freund von mir, Fernando. Obwohl wir den
Nachtbus nehmen, schaffen wir es nicht, dem Stau zu entkommen: Morgens um 6 Uhr
herrscht Stillstand auf der Autobahn. Sieben Millionen Autos schleppen sich auf sechsspurigen Straßen durch diese Stadt, je nach Nummernschild dürfen die Halter an einem Wochentag nicht fahren - Stau gibt es trotzdem immer. Das Verkehrschaos ist eine der hässlichen
Seiten São Paulos. Doch die Stadt verfügt über mindestens genauso viele schöne,
auch wenn mir die Cariocas vor meiner Abreise das Gegenteil weismachen wollten.
„Du fährst nach São
Paulo? Was willst du denn dort? Da gibt es nichts zu sehen außer Straßen und
Hochhäuser und die Leute sind immer im Stress“, erklärten sie mir. Aus Sicht
der Paulistas hingegen arbeiten die Cariocas nicht und Brasilien wäre schon
lange den Bach heruntergegangen, wenn sie nicht für den nationalen Wohlstand
schuften würden.
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Ausblick vom 38. Stock des Gebäudes der Banespa-Bank |
In vielen Vorurteilen
steckt ja ein Körnchen Wahrheit. Tatsächlich wird ein Drittel der Wirtschaftsleistung des Landes in der Metropole erbracht und ich bemerke schnell, dass SP
(wie die Bewohner die Stadt nennen) einen anderen Rhythmus hat als Rio. Im
Restaurant, an der Supermarktkasse und im Museum: Überall geht es viel
schneller, denn die Menschen arbeiten zügig, anstatt zu tratschen, zu träumen
und zu telefonieren.
In den Clubs der Stadt
feiern die Paulistas zu Sertaneja statt zu Baile Funk – und zu Preisen, die mir
die Sprache verschlagen. In einem Club, in dem Frauen in knappen Outfits zu
einer Lasershow tanzen, kann man etwa
eine Flasche Champagner zum Preis von zwei brasilianischen Monats-Mindestlöhnen
erwerben. Pierre erklärt mir, dass er diesen Ort ganz schrecklich findet, aber
von einem soziologischen Standpunkt aus betrachtet sehr spannend. Dann betrinkt er
sich mit dem etwas bezahlbareren Bier und spricht brasilianische Frauen an.
Fernando hatte zuvor behauptet, er müsse nur sagen, dass er Franzose sei, damit
es mit den Frauen klappt. Bald zeigt sich allerdings, dass es ganz so einfach dann
doch nicht ist.
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Sertaneja-Party in Edel-Diskothek |
Ganz anders als in diesem
Edelschuppen geht es in Fernandos Wohngegend zu. In der Rua Augusta reihen sich
Rockerkneipen an Second-Hand-Läden und Galerien. Am Wochenende spielen dort und
an anderen Orten des Stadtzentrums Livebands – nordamerikanisch inspirierten Rock und Hip Hop statt Samba und
Forró. Das internationale Ambiente spiegelt sich auch in der Gastronomieszene wider: Fernando, Pierre,
sein ehemaliger Mitbewohner Bruno und ich essen in japanischen und italienischen
Restaurants und trinken in britischen Pubs – in Rio kaum zu finden. Die Rechnung aber erhält immer einer der Jungs, auch wenn ich sie bestelle: Einige Dinge sind
auch im europäisch anmutenden São Paulo so lateinamerikanisch wie in Rio.
Dennoch erlebe ich SP als eine ganz besondere Stadt: energiegeladen, international, voller Musik, Kunst und Kultur. In Rio weiß ich bei Regen nichts mit mir anzufangen, in São Paulo ist die Liste der Museen, Kulturzentren, Clubs und spannender Gebäude lang. Außerdem genieße ich es, meine alten Freunde wiederzusehen: mit ihnen ist es, als würde ich ein Stück ehemalige Heimat an einem unbekannten Ort wiederfinden.
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Hip Hop im Zentrum von SP |
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Graffiti-Künstler bei der Arbeit |
Von meiner Mutter und einer Freundin hatte ich vor meiner Abfahrt nervöse Mails bekommen – São Paulo hat scheinbar einen noch schlechteren Ruf als Rio, was Gewalt und Kriminalität betrifft. Tatsächlich ist die Kriminalitätsrate in den Favelas am Stadtrand sehr hoch, das Viertel Jardim Angela ernannten die Vereinten Nationen Ende der 90er Jahre zur „gewalttätigsten Region der Welt“ und auch heute noch führt das Gebiet die weltweite Mord-Statistik an. Im Zentrum kriegt man davon aber wenig mit, wegen der hügellosen Geografie der Stadt gibt es dort keine Favelas. Und so fahren wir auch nachts Bus statt Taxi und Fernando erzählt mir, dass ihm in zehn Jahren in São Paulo nie etwas passiert ist. „Ich weiß natürlich, dass am Stadtrand Menschen sterben im Drogenkrieg“, sagt Fernando. „Aber das ist wie aus einer anderen Welt, nicht wie bei dir in Niterói, wo es nebenan passiert.“
Nach drei spannenden und schönen Tagen fahren Pierre und ich zurück nach Rio. Als wir abends um 20.30 Uhr am Busbahnhof in Rios Nordzone ankommen, überlege ich, ein Taxi zu nehmen. Doch ich habe ziemlich viel Geld in São Paulo ausgegeben und der Bus nach Niterói fährt gleich auf der anderen Straßenseite. Also stopfe ich meine Handtasche in meinen Reiserucksack und stecke zehn Reais für den Bus ein. An der Treppe, die zur Überführung auf die andere Straßenseite führt, sitzen einige Obdachlose. Mir wird ein wenig mulmig, doch ich will weder umkehren noch alle Menschen ohne Wohnung unter Generalverdacht stellen und steige die Stufen hinauf.
Einer von den Obdachlosen
springt auf, läuft mir hinterher und fordert mich auf, ihm Geld zu geben. „Ich
habe nichts“, sage ich verängstigt, er zischt „los, los, her damit“. Ich gebe
ihm die zehn Reais aus meiner Hosentasche, er will mehr, droht mir mit weit
aufgerissen Augen und aggressiver Stimme und schneidet mir den Weg ab, fasst
mich aber nicht an und versucht auch nicht, mir meinen Rucksack wegzunehmen.
Nachdem ich etwa fünf Mal „ich habe nicht mehr“ gesagt habe, lässt er mich
gehen und ruft mir „danke“ hinterher. Ich
laufe mit zitternden Knien über die Überführung und hole meine Handtasche erst
im Bus nach Niterói aus dem Reiserucksack.
War das gerade ein assalto, ein Überfall?, frage ich mich.
Oder nur aggressives Betteln? Tatsache ist: Ohne die Drohungen hätte ich dem
Mann nichts gegeben. Wie die meisten Brasilianer habe auch ich mich ziemlich
abgeschottet von dem Elend, in dem große Teile der Bevölkerung leben. Auch wenn es in Rio so viel greifbarer ist als in São Paulo. Ein
unangenehmer Gedanke, der mich noch die ganze Heimfahrt über beschäftigt.