Mittwoch, 24. Juli 2013

Brasilianische Herzlichkeit





„Hallo mein Freund! Alles gut bei dir? Wie läuft´s?“ Der Mann, der Bier verkauft und Sonnenschirme vermietet, klopft meiner Strandbegleitung João in Itacoatiara (was auf der indigenen Sprache Tupi „bemalter Stein“ heißt)  breit grinsend auf die Schulter. Auf meine Frage, wie oft man hierherkommen müsse, um so von den Strandverkäufern begrüßt zu werden, entgegnet er: „Wieso? Ich habe diesen Typen noch nie gesehen.“



Strand von Itacoatiara


Dann erklärt er mir, dass diese überschwängliche Freundlichkeit für die Brasilianer so wichtig ist wie der ‚cafezinho‘ am Morgen. „Brasilianer schlagen niemals eine Einladung aus!“, sagt er. Ein „nein“ gilt als verletzend und wird persönlich genommen. Statt „ich hatte einen langen Tag und gehe heute lieber früh schlafen“, muss es etwa heißen: „Oh meine Liebe, das klingt wundervoll! Ich werde es mir aber für das nächste Mal aufheben müssen, heute ist es mir leider unmöglich.“

Zuneigung und Herzlichkeit werden hier im Alltag zelebriert: Brasilianische Freunde und Freundinnen umarmen und küssen sich ständig, zur Begrüßung gerne auch mal auf die Stirn statt auf die Wange. Praktisch für reservierte Ausländer wie mich, denen das manchmal etwas zu viel wird: Körperliche Zuneigung kann auch verbal ausgedrückt werden, indem man dem Gegenüber ganz einfach „beijo!“ (Kuss) oder „abraço!“ (Umarmung) zuruft.

Auch Unbekannten gegenüber wird Liebenswürdigkeit an den Tag gelegt, nicht nur von Strandverkäufern. Wenn ich zum Beispiel, schon fast aus der Tür raus, der Kassiererin beim Bäcker noch ein „danke“ zumurmele, erwidert sie das mit einem aufrichtig-herzlichen „aber gerne doch, meine Liebe“, sodass ich mich ganz schlecht fühle.

Ein anderes wunderbares Beispiel ist das Busfahren. Wenn ich einen Platz im Bus finde, stürze ich mich erleichtert darauf und schaue konzentriert aus dem Fenster, damit mir nicht übel wird. (Der Fahrstil von Rios Busfahrern ist unbeschreiblich – das kleine Schild „Der Bus sollte nützen, nicht töten“, das an manchen Haltestellen hängt, macht ihn vielleicht in Ansätzen vorstellbar.) Finde ich keinen Platz, kralle ich mich an einer Stange fest und fluche innerlich vor mich hin.

kreativer Protest gegen rasende Busfahrer

Dann spricht mich gelegentlich jemand an und schlägt mir vor, meine Tasche auf den Schoß zu nehmen. Die ersten Male habe ich noch leicht irritiert abgelehnt. Doch tatsächlich hält sich das Gleichgewicht ohne große Tasche deutlich besser. Und oft entwickelt sich auch noch ein nettes kleines Gespräch mit der Person, welche die Tasche hütet. 

In dessen Zuge wird dann auf den Verkehr geschimpft oder von der Familie erzählt. Manchmal wird mir auch erklärt, ich wirke gar nicht Deutsch, sondern stattdessen ganz freundlich. Da heißt es dann lächeln, nicken und schweigen. So oder so sind diese Gespräche aber immer unterhaltsam. Beendet werden sie beim Aussteigen oft mit einem „chaozinho amiga“ (Tschüssi, Freundin). In Brasilien findet man leicht Freunde.

Neulich zum Beispiel trafen Ana, Maria und ich in einer der Kneipen am Campus João, der zwei Freundinnen im Schlepptau hatte. Nach einer fünfminütigen Unterhaltung hatten die beiden Mädels uns in das Wochenendhaus ihrer Eltern eingeladen. Nach zehn Minuten hatten wir Nummern und Facebook-Kontakte ausgetauscht. Als wir weiterzogen, verabschiedeten die Mädels sich mit einem „até mais amigas!“ (bis bald Freundinnen!).

Ich habe das Gefühl, in Brasilien gibt es nur potenzielle Freunde und Freunde. Potenzielle Freunde sind diejenigen, die man noch nicht kennt. Alle anderen sind Freunde – ich habe noch nie einen Brasilianer den Ausdruck „ein Bekannter von mir“ verwenden hören.

Brasilianer laden Freunde (und Menschen, die ich als Bekannte bezeichnen würde) gerne übers Wochenende zu ihrer Familie ein. So habe ich mit Rena und Daniel, zwei anderen deutschen Austauschstudenten, ein verlängertes Wochenende bei der Familie von Hélvio in Araruama verbracht, ein Strandort etwa 100 Kilometer östlich von Niterói. Hélvio ist der Freund von Renas Freundin Stephanie. Stephanie kannte ich vor diesem Ausflug, ihren Freund nicht. 

Seine Familie nahm uns dennoch auf wie verloren geglaubte Kinder. Als ich am zweiten Tag mit Rena in der Küche stand, kam Hélvios Großmutter dazu, stellte sich neben mich, legte mir den Arm um die Hüfte und begann zu plaudern. Meine Irritation wich schnell einem tiefen Wohlgefühl. Wie schön, 10 000 Kilometer entfernt von zu Hause unerwartet von einer Ersatz-Oma umarmt zu werden! 

Rührend war auch der Abschied, bei dem mich Hélvios Stiefvater  fragte, ob er mir auf die brasilianische Art auf Wiedersehen sagen könnte. Als ich bejahte, umarmte er mich, küsste mich auf beide Wangen und erklärte: „Das ist einfach schöner so! Wir Brasilianer schätzen eine feste Umarmung unter Freunden.“

Hélvios Stiefvater bereitet ein brasilianisches Churrasco vor

Natürlich stehen auch Salome und ihre Familie ihren Landsleuten in diesem Punkt in nichts nach. Als wir am Muttertag alle gemeinsam zu Mittag aßen, dankte sie in einem Tischgebet mit Tränen in den Augen und belegter Stimme Gott für ihre Kinder - und für die, welche sie bei sich aufgenommen hätte. Das galt meinen Mitbewohnern Pablo, Fabio und mir. Während ich noch verlegen zu Boden schaute, bedankte sich Pablo bereits mit vor Rührung zittriger Stimme – und den obligatorischen Küssen und Umarmungen.

Die brasilianische Freundlichkeit kommt im entsprechenden Moment meistens von Herzen. So gefiel den Mädels in der Bar die Idee, ein paar Austauschstudentinnen mit zu ihren Familien zu nehmen, bestimmt wirklich. Die jeweilige Situation überdauert die spontan empfundene Freundschaft aber oft nicht. Die beiden Mädchen etwa haben wir nie wieder gesehen.

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