Samstag, 27. Juli 2013

Drogenkrieg vor der Haustür



4. Monat

Die Explosions-Geräusche mischen sich in meine Träume von Gangstern, folternden Polizisten und Kindern mit Waffen. Vor dem Einschlafen habe ich mit meinen Mitbewohnern Pablo und Fabio „Tropa de Elites“ angeschaut, ein brutaler Film über den Drogenkrieg in Rios Favelas.

Ein besonders lauter Knall reißt mich jetzt aus meinem unruhigen Schlaf. Ich halte ihn für ein Feuerwerk. „Zum Glück nur ein böser Traum“, denke ich und stopfe mir Stöpsel in die Ohren
.
Am nächsten Tag erfahre ich von Salome, dass es Schießereien gab in Fonseca, wohl zwischen der Favela, auf die ich von meinem Balkon aus schaue, und der Favela hinter dem Haus in der Rua Magnólia Brasil. Quasi über unser Dach hinweg. Das ist die Wirklichkeit und kein Film, trotzdem kann ich es nicht richtig wahrhaben. 

Im Internet suche ich nach Informationen. In einem Artikel steht etwas von „falschen Gerüchten“ über Schießereien in Fonseca. Die Kommentarliste darunter ist ewig lang, wütende Anwohner schreiben, dass wirklich geschossen wurde. Warum die Polizei den Journalisten gegenüber die Wahrheit leugnet und warum die Presse sich so abspeisen lässt oder ob sie mit den Polizisten unter einer Decke steckt – ich weiß es nicht.

In der folgenden Nacht wird wieder geschossen. Ich fühle mich schutzlos im Bett, so nah am Balkon, will aber auch nicht auf dem Boden schlafen. Dafür fühlt sich das Ganze einfach zu unwirklich an.

Als ich am nächsten Morgen übermüdet und verängstigt die Küche betrete, diskutiert meine Vermieter-Familie beim Frühstück darüber, ob sie sich nach dem Tod eines der Drogenbosse sicherer fühlen sollte oder nicht. Die Militärpolizei ist wohl in der vergangenen Nacht auf den Hügel marschiert und hat danach den Tod eines Gangsters vermeldet.
 
Nach dieser Polizeiaktion finde ich endlich auch Informationen zu den Schießereien – die sind allerdings eher beunruhigend. In einem Artikel über den Polizeieinsatz steht, dass eine dem Comando Vermelho nahestehende Drogengang die Favela vor meinem Balkon erobert habe, sehr zum Missfallen des Kartells Amigos dos Amigos, das dort bisher herrschte. Ich habe also zwei der schlimmsten Verbrecherbanden Rios als Nachbarn. Da beruhigt es mich auch nicht, dass in dem Artikel steht, die Kämpfe würden innerhalb einer Favela stattfindenund nicht, wie Salome sagte, zwischen den Hügeln vor und hinter unserem Haus.

Blick aus meinem Fenster - am Ende der Steigung beginnt die Favela

In dem Artikel erfahre ich außerdem, dass der „bandido“, der bei dem Einsatz umkam, erst 18 Jahre alt war. Angeblich starb er im Gefecht – ein Foto zeigt ihn auf dem Bauch liegend, eindeutiges Zeichen für eine Exekution durch einen Kopfschuss. Polizeiarbeit, wie sie vor den Befriedungen in den Favelas oft aussah. 

Warum die Gangster sich ein neues Viertel suchen mussten, steht nicht in dem Artikel. Alle Menschen, mit denen ich spreche, sind sich aber sicher: Es liegt an den Pazifizierungseinheiten in Rio. Die kündigen ihre Einsätze nämlich vorher an, um ein Blutbad zu vermeiden. Die Bosse der Gangs fliehen dann aus der Favela, bevor sie verhaftet werden, meist in noch unbefriedete Favelas in Rios Nordzone und in die Nachbarorte der Stadt. Dort nimmt die Gewalt rapide zu und die Menschen fühlen sich im Stich gelassen, so auch Salome und ihre Familie.

Die Hoffnung, dass nach dem Polizeieinsatz wieder Ruhe einkehrt in Fonseca, erweist sich als trügerisch. Nachts gehen die Schießereien weiter. Ob die Polizei an ihnen beteiligt ist, wissen Salome und die anderen im Haus nicht.

Im Seminar erzähle ich meinen Mitstudenten, dass der Drogenkrieg vor meiner Haustür tobt. Ich mache Scherze darüber, merke aber schnell, wie sehr mich die Situation in Wirklichkeit mitnimmt. Mein Herz rast scheinbar ohne Grund, auf der Straße drehe ich mich ständig nach hinten um, als würde ich verfolgt.

Trotzdem will ich mich nicht zu Hause verkriechen, verhalte mich so wie sonst auch. Als ich ein paar Tage nach den ersten Schüssen das Haus verlasse, um nach Rio zu fahren, fängt es wieder an zu knallen – zum ersten Mal am hellichten Tag. Ich halte mir die Ohren zu, die Menschen vor mir fangen an zu rennen, werfen ängstliche Blicke in Richtung des Hügels am Ende der Straße.

Abends graut es mir vor dem Weg von der Bushaltestelle bis zur Haustür. Doch es bleibt alles ruhig. Beim gemeinsamen Abendessen mit Salome und der Familie aber erschrecken uns ständig neue Schusssalven. Als Nelson seinen Sohn Wilson auffordert, sich nicht zu sehr dem Fenster zu nähern, denke ich: So will ich nicht wohnen. Am nächsten Tag ziehe ich zu Ana und Maria nach Rio und schlafe dort auf dem Sofa. 

Salome kann ihr Haus natürlich nicht so einfach verlassen. Sie schreibt stattdessen eine Petition an die Sicherheitsbehörden und fordert  mehr Polizeipräsenz in Niterói. Tatsächlich erreicht mich in Rio die Nachricht von ihr, dass jetzt abends Polizisten bei uns auf der Straße patroullierten. Auch seien weitere „bandidos“ verhaftet worden. 

Nach einer Woche kehre ich zurück nach Fonseca, merke aber schnell, dass ich mich dort nicht mehr entspannen und wohlfühlen kann. Wenn ich abends im Dunkeln alleine nach Hause komme, hoffe ich, dass ein Polizeiauto an der Ecke steht. Wenn dort keins ist, halte ich jeden Mann auf der Straße für den Boss des Comando Vermelho und würde mich am liebsten in Luft auflösen. 

Salome sagt mir, wie würde es verstehen, wenn ich ausziehen wolle. „Ich will nur, dass du dich wohl fühlst in Brasilien und ohne Angst leben kannst, denn ich habe dich wirklich gern“, sagt sie mit Tränen in den Augen. Wir umarmen uns und am nächsten Tag beginne ich mit der Wohnungssuche.

Ich würde gerne am Strand von Icaraí wohnen, ein Viertel mit besonders gutem Ruf. Auf den entsprechenden Seiten im Internet finde ich dort allerdings nur „quartos de empregada“, Angestelltenzimmer. Als ich mir das erste anschaue, halte ich es für einen Vorraum und will weiterlaufen. Da kommt aber nur noch ein winziges Bad. Die Wohnung ist elegant und geräumig. Ich frage mich, wie es sein kann, dass in ein erst vor einigen Jahren entstandenes Haus eine drei Quadratmeter große Kammer für die Dienstboten gebaut wird. Brasilien erscheint mir in diesen Tagen nicht nur gefährlich und voller sozialer Ungerechtigkeit, sondern geradezu gemein.

Angestelltenzimmer in einer WG in Icaraí

Als ich endlich ein mittelgroßes Zimmer in einem Haus im Univiertel Ingá finde, bin ich erleichtert und ziehe sofort ein. Die Vermieterin lässt nachts den Wachhund aus dem Zwinger, ein Rottweiler, der wolfsähnliche Geräusche von sich gibt. Außerdem gibt es weder Internet noch Waschmaschine. Und Männerbesuch ist verboten, auch tagsüber. Aber ich will einfach nur weg aus Fonseca.

Ich mache es mir so hübsch wie möglich in dem Zimmer, gehe mit meinen neuen Mitbewohnerinnen tanzen und esse jetzt, so nah am Campus, fast täglich in der Mensa. Das tut meinem Geldbeutel gut (das Essen dort kostet umgerechnet etwa 25 Cent), bald kann ich aber keinen Reis mit Bohnen mehr sehen.
Natürlich dauert es nicht lange, bis ich das erste Mal vor meinem neuen Wohnviertel gewarnt werde. Wieder liegt eine Favela in meiner unmittelbaren Nachbarschaft - kein Wunder, wohnen doch etwa ein Drittel aller Einwohner Rios in solchen irregulären Armensiedlungen.

Außerdem lese ich, dass ein Straßenzug bei mir um die Ecke den Spitznamen „verlorenes Viertel“ trägt. Der Grund: Gangster, die hier regelmäßig Studenten überfallen, rufen „verloren, verloren“, wenn sie eine Waffe auf ihr Opfer richten. Und in einem Unifaltblatt, das mir beim Aufräumen in die Hände fällt, steht, dass die im vergangenen Jahr eingerichteten Busse, welche die verschiedenen Fakultäten miteinander verbinden, der Sicherheit der Studenten dienen. Was so viel heißt wie: In Campusnähe herumlaufen ist gefährlich. Kurz darauf höre ich im Morgengrauen vereinzelte Schüsse aus der Favela hinter meinem Haus.

Der Alltag in Brasilien ist härter, als ich mir vorgestellt hatte. Trotzdem herrscht in Ingá kein Krieg wie in Fonseca. Und wenn ich jetzt über die Schießereien scherze, die mich quasi verfolgen, fühlt es sich schon fast natürlich an. Zynismus, den ich hoffentlich nicht mit nach Deutschland nehmen werde.

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