Mittwoch, 17. Juli 2013

Brasilianische Bürokratie: Das Haus, das Verrückte macht



„Und jetzt noch mal hier den Daumen! Und da die anderen vier Finger! Auf der Rückseite dann noch mal das Gleiche!“ Seit einigen Minuten drücke ich meine mit Tinte beschmierten Finger auf verschiedene Papiere, welche die Dame vor mir wendet, faltet und dann abheftet. In einen dicken Ordner voller Fingerabdrücke von Ausländern. 

Als mir gesagt wurde, ich müsse noch ein Mal zurück zur Polizei, um meine Fingerabdrücke abzugeben, hatte ich mir vorgestellt, meinen Zeigefinger auf ein elektronisches Lesegerät zu drücken. Weit gefehlt.

Aber zurück zum Anfang: Mit meinem Studentenvisum und unzähligen anderen Unterlagen sollte ich mich innerhalb von 30 Tagen nach meiner Ankunft in Brasilien bei der Polizei melden. Salome rief dort an, um zu erfahren, um welche Unterlagen es sich genau handelte. „Am Telefon wird keine Information erteilt“, erklärte ihr ein unfreundlicher Beamter. 

Also fuhr ich zum Büro der Polícia Federal, wo mir eine Liste mit den benötigten Unterlagen ausgehändigt wurde. Unter anderem musste ich eine ordentliche Summe Geld bezahlen - eine unangenehme Überraschung, nachdem das Visum kostenlos gewesen war. (Und mit folgender netter Anmerkung versehen: "Für deutsche Staatsbürger ist das Visum gebührenfrei! Vereinigte Staaten von Amerika (USA): Die Visa-Bearbeitungsgebühren betragen € 161,50. (Dieser Betrag entspricht der Bearbeitungsgebühr, die brasilianische Bürger für die Ausstellung eines Visums für die USA entrichten müssen.)")

Für die Überweisungen an die Polizei – die Summe war in zwei Überweisungen aufgeteilt, warum, weiß ich nicht - musste ich online eine Kombination aus Zahlen und Buchstaben generieren. Die ergab sich aus so verschiedenen Variablen wie meinem Visumstyp, der zuständigen Behörde und dem Namen meiner Mutter (!). Mit diesem Salat aus Ziffern und Zeichen kreierte das System dann im nächsten Schritt zwei Barcodes – einen pro Überweisung - die ein Bankbeamter bei der Überweisung einscannen sollte. 

Das erfuhr ich, nachdem ich anderthalb Stunden in der Banco do Brasil angestanden hatte, mit einem Zettel, auf dem statt eines Barcodes stand: „Bild kann nicht richtig angezeigt werden“. Spätestens an dieser Stelle fühlte ich mich wie Asterix, der, um eine Wette mit Cäsar zu gewinnen, im „Haus, das Verrückte macht“, den „Passierschein A 38“ besorgen soll – ein unendliches bürokratisches Unterfangen, das bisher alle Antragsteller in den Wahnsinn getrieben hat.

Das alles wird aber gerade von der Dame getoppt, die meine Hände zu dem Papier führt wie die eines Kindes und meinen Versuch, meine Finger eigenständig zu bewegen, freundlich, aber mit einem festen Griff verhindert. Ich koche innerlich vor Wut, obwohl das Polizeibüro wie alle öffentlichen Räume in Brasilien auf eisige 15 Grad herunter gekühlt ist, und starre die Dame wütend an, während ich mir vorstelle, meine mit Tinte beschmierten Finger an ihrer  Bluse abzuwischen.

Doch immerhin: Am Ende dieses und weiterer Prozesse bin ich offiziell in Brasilien registriert und sogar stolze Besitzerin einer CPF-Nummer (diese magische Kombination aus Zahlen und Buchstaben, ohne die man in Brasilien kein Flug- und kein Konzertticket kaufen kann). 

Ich belohne mich mit einer Kokosnuss am Strand von Icaraí und genieße den Panoramablick auf Rios Skyline mit Hochhäusern, Zuckerhut und Christusstatue. Die Schönheit der Stadt versöhnt mich ein wenig mit der irren Bürokratie und lässt mir meinen Ärger albern erscheinen. „Tudo tranquilo“, alles entspannt - etwas mehr brasilianische Lockerheit würde mir gut tun.

Nicht nur ich trinke gerne Kokosnüsse am Strand

Neben der Lockerheit, die mir so fehlt, haben die Brasilianer ihre ganz eigene Taktik, dem bürokratischen Wahnsinn in ihrem Land zu begegnen: Das jeitinho. ‚Jeito‘ bedeutet so viel wie Art und Weise, aber auch Geschick. Eine kranke Mutter wird ins Feld geführt, um sich an dem offiziellen bürokratischen Weg vorbeizumogeln, ein Notfall, um noch ein Ticket für den eigentlich vollen Bus zu ergattern. Oder es wandert Geld über den Tresen.

Aus einem soziologischen Aufsatz erfahre ich, dass der böse Bruder des jeitinho  die malandragem ist, was auf Deutsch übersetzt sowohl Betrug als auch Gerissenheit heißt. Klassisches Beispiel ist der Satz: „Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?“ In Brasilien, wo Klassenunterschiede bis heute eine große Rolle spielen und die Häuser extra Zimmer und Fahrstühle für Angestellte haben, kann ein Name viele Türen öffnen. 

Während der Mensch, der es mit dem jeitinho versucht, sich seinem Gegenüber komplizenhaft nähert, ist die malandragem drohend und schafft soziale Distanz. Wer so droht, obwohl er es sich eigentlich nicht richtig leisten kann, ist sofort raus aus dem Spiel. Aber oftmals auch der, der stur auf seine Rechte als Konsument oder Staatsbürger beharrt und dem anderen nicht das Gefühl gibt, von dessen Großzügigkeit abzuhängen. So sagt es zumindest der Soziologe. 

Als ich mit der kanadischen Mitbewohnerin von Ana und Maria über ihre Zukunftspläne spreche, erzählt sie mir, dass sie sich nicht vorstellen kann, für immer bei ihrem Freund in Brasilien zu bleiben. „Sich hier anzumelden, selbstständig zu machen, Steuern zu zahlen: das muss ein Alptraum sein“, sagt sie. Ich erzähle ihr vom Passagierschein A 38 und wir lachen. Und reden dann über all die Dinge, die Brasilien dennoch lebenswert machen. Die Offenheit und Herzlichkeit der Menschen. Das Gefühl, dass die Menschen hier arbeiten, um zu leben und nicht leben, um zu arbeiten. Der Reichtum der Natur. Die Sonne. Und natürlich Caipirinhas in Rios Ausgehviertel Lapa.


Straßenparty in Lapa

Diese Liste sage ich von nun regelmäßig an in Gedanken auf. Etwa, wenn ich zehn Minuten lang beim Kopierladen warte, in dem zwar drei Leute arbeiten, die aber alle gerade mit Kaffee kochen oder telefonieren beschäftigt sind. Oder, als ich vor der ersten Sitzung eines Seminars zwar wusste, in welchem Gebäude es stattfinden würde, aber nicht, in welchem Raum. Mit dem Titel des Seminars könne sie mir nicht weiterhelfen, erklärte mir die Dame im Erdgeschoss. Sie bräuchte die Code-Nummer (von deren Existenz ich nichts wusste). 

„Die Sonne!“, sagte ich mir auch, als die Dozenten in der ersten Uniwoche nicht erscheinen. Und ebenso, als auch in den Wochen danach immer erst klar wird, dass eine Veranstaltung ausfällt, wenn man bereits dort ist. Und wenn in Rio ein Feiertag ist, mir aber niemand sagen kann, ob der auch in Niterói gefeiert wird. Der einzige Weg, das rauszufinden, ist, morgens um 9 Uhr zur Uni zu gehen und zu schauen, ob man ins Gebäude gelassen wird.

Dann hilft das reine Aufsagen manchmal nicht mehr, und es muss eine echte Caipirinha her.

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