Eine Stadt am Reißbrett entworfen, ohne Seele, sagen manche über die brasilianische Hauptstadt. Ein Mekka für Architektur-Interessierte und Denkmal der Moderne, sagen andere. Mich fasziniert die Vorstellung, dass Brasilia in nur 1000 Tagen im heißen, trockenen Inland aus dem roten Steppenboden gestampft wurde.
Als Ana, Maria und ihre
Mitbewohnerin Sarah ein Sonderangebot bei einer brasilianischen Fluglinie
entdecken, zögere ich deshalb nicht lange. Reisen ist nämlich teuer in
Brasilien. Normalerweise oft zu teuer für die Brasilianer. Mit dem gleichen
Angebot kommen Verwandte von Salome aus dem im Nordosten gelegenen Recife nach
Rio. Über zehn Jahre hatten sie die dort lebenden Familienmitglieder nicht
gesehen.
Sarah und ich überlassen den
beiden Architekturstudentinnen die Planung. Die erweist sich als kompliziert:
Die Adressen in Brasilia lauten etwa „SHS Q6, BI. F“ und stehen für den Sektor,
dessen Funktion (etwa Regierungs-, Hotel- oder Einkaufsviertel), die
Himmelsrichtung und den Block… oder so ähnlich. Straßennamen galten dem
Architekten Oskar Niemeyer und dem Stadtplaner Lucio Costa Ende der 50er Jahre
als antiquiert. Und in ihrer Vorstellung war die ideale Stadt funktional gegliedert, in Arbeits-, Wohn- und Vergnügungsviertel.
In Brasilia dürfen wir bei
Verwandten von Sarahs brasilianischem Freund Neto schlafen, ein Glück, denn in
Brasilia gibt es keine Jugendherbergen, sondern nur teure Hotels für
Geschäftsreisende.
Brasilia von oben |
Netos Cousin Lucas holt uns vom
Flughafen ab und erklärt uns seinen Heimatort. Die Stadt ticke anders als der
Rest Brasiliens. „In Brasilia funktionieren die Dinge“, sagt Lucas. Das heißt:
An den Zebrastreifen bremsen die Autos, um die Fußgänger vorbeizulassen. An
roten Ampeln wird gehalten. Es herrscht kein Menschen-Gewirr auf den Straßen.
„Hier hat man viel mehr Platz als in Rio oder São Paulo“, erklärt Lucas. Diesen Platz nehme ich eher als eine
trostlose Menschenleere wahr, als ich aus dem Fenster schaue. Keine Fußgänger
weit und breit, nur Autos.
Lucas Mutter Patricia arbeitet im
Abgeordnetenhaus, früher war sie Architektin. Ihr Haus hat sie selbst gebaut,
es hat große Fensterfronten zum Garten hin, der direkt auf den Weg führt. Kein
Stacheldraht, kein Zaun, nicht einmal eine Hecke. Doch die ungewohnte Offenheit
des Hauses ist nicht etwa deshalb möglich, weil es in Brasilia keine
Kriminalität gibt. Sondern weil das Haus in einer Gated Community liegt, einem geschlossenen überwachten Wohnkomplex.
Statt Stacheldraht vor dem Haus sorgen am Eingang der abgeschotteten Siedlung
Wächter für die Sicherheit. Und Schranken, die sich öffnen, wenn die Anwohner
ihren Zeigefinger auf ein Lesegerät drücken.
Patricia nimmt uns mit dem Auto
mit ins Regierungsviertel, in der Mittagspause und nach Feierabend kutschiert
sie uns durch die Stadt. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind nämlich etwas,
das nicht so gut funktioniert in Brasilia.
Wir parken an dem wohl
berühmtesten Monument der Stadt, dem Nationalkongress. Zwei weiße Schüsseln,
eine davon auf dem Kopf, dahinter zwei gewaltige Türme. Die Schale beherbergt
den Senat, die Kuppel das Abgeordnetenhaus, in den Türmen sind Büros
untergebracht.
Der Nationalkongress |
Ein Mann mit neongelber Weste
spricht uns an, er sammelt Geld fürs Parken. „Ist der von der Stadt?“, frage
ich Patricia, denn ich kann mir in diesem offiziellen Umfeld keine Gaunerei
vorstellen. Doch auch hier erweist sich Brasilia dann doch als nicht völlig
anders als der Rest des Landes: Es handelt sich nicht um Parkraumbewirtschaftung,
wie das auf Deutsch so schön heißt. Der Mann ist ein Arbeitsloser, der Geld
dafür nimmt, auf das Auto „aufzupassen“. Wer nicht zahlt, dessen Auto stößt
etwas zu, dafür sorgt der Aufpasser höchstpersönlich. Ein Geschäftsmodell, das
in ganz Brasilien verbreitet ist, an großen Plätzen genauso wie an verlassenen
Stränden.
Der Kongress ist von außen
beeindruckender als von innen, denn die dunklen Teppiche schlucken das wenige
Licht, das aus den spärlichen Fenstern ins Innere fällt. In der Kantine decken
wir uns mit Brötchen und Müsliriegeln ein, denn Straßenstände oder Eckcafés
gibt es nicht in Brasilia. Essen kriegt man in Shoppingcentern oder Vierteln,
die für das Vergnügen und nicht für die Arbeit geplant wurden.
Das Nationalmuseum |
Das Außenministerium |
Die Stadt der Zukunft ist heute
also ein Monument vergangener Zeiten. Vieles ist heute anders, als es damals erdacht
worden ist. 300 000 Menschen wohnen im geplanten Teil der Stadt - 2,3 Millionen in Satellitenstädten außerhalb.
In denen sind die Lebensverhältnisse oft prekär. Auch sollte in jedem
Häuserblock ein Supermarkt, eine Apotheke, ein Kindergarten zu finden sein.
Stattdessen existieren heute bessere und schlechtere Viertel, die zwar
architektonisch identisch sind, nicht aber, was Angebot, Infrastruktur und
Sicherheit betrifft.
Zwischen den beeindruckenden
Bauten herrscht außerdem diese irritierende Leere, die mir gleich zu Anfang
aufgefallen ist, denn die Stadt wurde für Autofahrer und nicht für Fußgänger
erdacht, in einer Zeit, als Autos für Fortschritt standen und nicht für Staus
und Umweltverschmutzung.