5. Monat
Skype, Mails, SMS und Postkarten mussten drei Monate lang über
10.000 Kilometer Entfernung bei fünf Stunden Zeitverschiebung reichen für
meinen Freund Georg und mich. Dann haben Warten und Sehnsucht ein vorläufiges Ende
und er kommt mich endlich in Brasilien besuchen.
Unruhig schlafe ich die Nacht bevor er ankommt bei Ana und
Maria auf dem Sofa und nehme um 6 Uhr früh ein Taxi zum Flughafen – Busse
fahren zwar auch nachts um 5 Uhr von Niterói nach Rio, sie zu benutzen ist aber
nicht empfehlenswert.
Während das eine vergleichsweise kleine Einschränkung ist,
sind wir mit einer weitaus schwierigeren konfrontiert: Georg darf nicht in meinem
Zimmer übernachten, denn Männer sind verboten in dem Haus, in dem ich wohne. So
schlafen wir mal hier und mal dort im Wohnzimmer und ziehen schließlich für ein
paar Tage in mein altes Zimmer in Fonseca zu Salome und ihrer Familie, wo die
Schießereien inzwischen vorbei sind.
Georg überrascht mich mit Detailwissen zu Rio und Brasilien,
das er sich in den vergangenen Monaten angelesen hat und wir diskutieren viel
über all das, was in diesem Land nicht funktioniert und was es dennoch
lebenswert macht. Dabei merke ich, wie empfindlich ich auf seine kritischen
Beobachtungen reagiere. Es ist paradox: Bevor Georg kam, war ich die Deutsche
in Brasilien, die sich lustig macht darüber, dass es keine Busfahrpläne gibt,
die Busfahrer rasen wie Verrückte, die Kassiererinnen miteinander plaudern und
in Zeitlupe arbeiten, das Internet im Internetcafé nicht funktioniert und die
Drucker in der Druckerei. Jetzt bin ich diejenige, die sich ausgesucht hat,
Portugiesisch zu lernen und in diesem Land zu studieren. Und plötzlich fühle
ich mich verantwortlich vor ihm für alles, was schief läuft und bin beleidigt,
wenn er meine Wahlheimat kritisiert.
Doch weder dieser Umstand noch das regnerische Wetter (es
ist inzwischen Winter in Brasilien) können unserer guten Laune etwas anhaben. Wir
schauen vom Stadtpark in Niterói der Sonne zu, wie sie hinter dem Zuckerhut verschwindet,
spazieren den Strand von Ipanema entlang und klettern auf die dois irmãos („zwei
Brüder“), zwei skurril geformte Hügel am Ende der befriedeten Favela Vigidal. Über
die Fliesentreppen des chilenischen Künstlers Selarón erreichen wir Rios
Bohème-Viertel Santa Teresa und genießen bei einem frisch gepressten Fruchtsaft
den Blick auf Rios Zentrum. In Pedra do Sal gehen wir zur Roda de Samba, eine Art Jamsession für Samba-Musik. Jeden Montag
versammelt sich dort eine Gruppe von Musikern und beglückt ein internationales
Publikum mit Trommelmusik und Gesängen. Der historische Platz ist das Herz der
schwarzen Kultur Rios, dort wurde, so heißt es, der Samba erfunden.
Blick auf Rio vom Stadtpark aus |
Blick auf Rio von den "zwei Brüdern" aus |
Roda de Samba |
Fliesentreppe von Selarón |
Gemeinsam bereisen wir außerdem die Höhepunkte im
Bundesstaat Rio de Janeiro: Die malerische Kolonialstadt Paraty, so nah am Meer
gebaut, dass die Kopfsteinpflaster-Gassen regelmäßig überschwemmt werden, die
grüne Insel Ilha Grande, die Strände,
Berge und Wälder zu bieten hat und das Hippiedorf Sana, voller Wasserfälle und
Wanderpfade.
Paraty |
In unserer Unterkunft in Paraty schalten wir den Fernseher
ein: eine kleine Kultur-Lektion. Abends laufen Telenovelas, kitschige und
billig produzierte Sendungen mit den immer gleichen Schauspielern, die täglich über
einige Monate laufen, bis alle potenziellen Paare sich bekommen haben. Manche
Novelas behandeln auch soziale und politische Themen wie Rassismus und
Klassenunterschiede. Meistens sind die Protagonisten aber hellhäutig und
wohlhabend. Als es zum ersten Mal eine schwarze Protagonistin gab, war das eine
kleine Sensation. Die Serien gehören zum Alltag der Brasilianer: In den Bussen
laufen neben Nachrichten, Horoskop und Wetterbericht auf kleinen Bildschirmen auch
die „Zusammenfassung der Novelas“ und mehrere Zeitschriften sprechen nur über
die Stars der Sendungen.
Morgens hingegen laufen im Fernsehen Aufnahmen von
Gottesdiensten der Freikirchen. 35.000 solcher Kirchen gibt es heute in
Brasilien. In den letzten Jahren haben sie enormen Zulauf gehabt. Gaben im Jahr
1960 noch 91 Prozent der Menschen an, katholisch zu sein, waren es 2000 nur
noch knapp 74 Prozent. Vor allem die ärmeren Menschen fühlen sich angezogen von
den Heilsversprechen und den Event-artigen Messen, bei denen der Pfarrer Lieder
über seine Liebe zu Jesus singt und die Menschen sich in Ekstase tanzen. Für
dieses Erlebnis geben sie bis zu zehn Prozent ihres Einkommens an die Kirche
ab, weswegen diese Einrichtungen von vielen Brasilianern scharf kritisiert
werden.
Selbst im winzigen Sana kommen wir an einer gut besuchten Igreja Universal de Deus
(„Universalkirche Gottes“) vorbei. „Die sind nur dazu da, den Armen das letzte
bisschen Geld wegzunehmen“, sagt unser Wanderführer, als ich ihn nach der
Kirche frage. Während er uns zum höchsten Gipfel Sanas leitet, erzählt er uns
vom aufkeimenden Ökotourismus in dem Ort, der in keinem Reiseführer erscheint.
Er hofft auf mehr Investitionen in den Tourismus und vor allem darauf, dass die
Gegend zum Nationalpark erklärt wird. Dann hätte die Viehzucht und damit die
Zerstörung der Natur ein Ende und es würden Gelder in weitere Wanderwege
fließen.
So könnte er ein vernünftiges Gehalt verdienen als Guide,
während er jetzt gerade so über die Runden kommt: Das Wasser in Sana ist so
sauber, dass er es aus der Leitung trinken kann, Freunde geben ihm Essen aus
ihren Gärten und die Miete in dem Ort ist niedrig. Woanders würde es nicht zum
Überleben reichen, erzählt er uns, auch nicht in Niterói, wo er geboren ist. Heute
sei dort alles so teuer, dass er nicht länger als drei Tage bleiben könne, wenn
er seine Familie besuche, sagt er. „Aber meine Kindheit war toll: Niterói war
viel ruhiger und sicherer, die Hochhäuser in Icarai standen vor 20 Jahren noch
nicht und es gab fast keine Autos in der Stadt. Ich habe barfuß auf der Straße
gespielt und bin auf Bäume geklettert. Unglaublich, wie sich die Stadt seitdem
verändert hat.“
Er erzählt Georg und mir, was sich seit seiner Kindheit
alles zum Negativen gewandelt habe in Brasilien. Wenn er in die nächstgrößte
Stadt fährt, lasse er seine Armbanduhr zu Hause: „Überall musst du Angst haben,
überfallen zu werden.“
Das Gleiche erzählt uns mein ehemaliger Mitbewohner
Pablo. Seine Markenkleidung trägt er nur in seiner Heimatstadt im Bundesstaat
von São Paulo
und nicht in Rio und Niterói. Die starke Polizeipräsenz in den beiden Städten
ändert daran nichts, im Gegenteil. Wie fast alle Brasilianer hat er auch schon
eine negative Erfahrung mit einem Polizisten gemacht. Als zwei Typen ihn eines
Nachts überfallen wollten und ihm die Nase blutig schlugen, als er sich wehrte,
parkte am Ende der Straße ein Polizeiwagen. Der Beamten reagierte auf Pablos
Schilderung des Geschehenen mit der
Bemerkung: „Und, soll ich jetzt deine Mutter anrufen oder was?“
„Natürlich habe ich nichts weiter gesagt, sondern bin gleich gegangen. So einer
kann dich mit auf die Wache nehmen und dir eine Höllen-Nacht bereiten, wenn er
sich von dir provoziert oder beleidigt fühlt“, erzählt Pablo. Er träumt von
einem Leben in den USA, hat aber gleichzeitig Angst davor. „Ich habe gehört,
die Leute da sind kalt und niemand redet miteinander auf der Straße“, sagt er.
Ein typisches Phänomen in Brasilien: Viele Leute wollen das
Land verlassen, können sich aber andererseits nicht vorstellen, woanders zu
leben, da sie dort sofort die saudade
packen würde, die Sehnsucht, Wehmut oder Melancholie. Ein Wort, für das es
keine genaue Übersetzung gibt und das für mich Brasilien repräsentiert wie kein
anderes.
Nach zwei wunderschönen Wochen, in denen mein Freund meine
Wahlheimat ein bisschen besser verstehen gelernt hat (vollkommen wird das
selbst mir nicht gelingen, auch nicht nach einem halben Jahr), bringe ich ihn
zum Flughafen. Von jetzt an sind wieder Sehnsucht und Skypen angesagt bis zu
meiner Rückkehr nach Deutschland.
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