Freitag, 2. August 2013

Besuch aus Deutschland, Telenovelas und Saudade



5. Monat

Skype, Mails, SMS und Postkarten mussten drei Monate lang über 10.000 Kilometer Entfernung bei fünf Stunden Zeitverschiebung reichen für meinen Freund Georg und mich. Dann haben Warten und Sehnsucht ein vorläufiges Ende und er kommt mich endlich in Brasilien besuchen.

Unruhig schlafe ich die Nacht bevor er ankommt bei Ana und Maria auf dem Sofa und nehme um 6 Uhr früh ein Taxi zum Flughafen – Busse fahren zwar auch nachts um 5 Uhr von Niterói nach Rio, sie zu benutzen ist aber nicht empfehlenswert.

Während das eine vergleichsweise kleine Einschränkung ist, sind wir mit einer weitaus schwierigeren konfrontiert: Georg darf nicht in meinem Zimmer übernachten, denn Männer sind verboten in dem Haus, in dem ich wohne. So schlafen wir mal hier und mal dort im Wohnzimmer und ziehen schließlich für ein paar Tage in mein altes Zimmer in Fonseca zu Salome und ihrer Familie, wo die Schießereien  inzwischen vorbei sind.

Georg überrascht mich mit Detailwissen zu Rio und Brasilien, das er sich in den vergangenen Monaten angelesen hat und wir diskutieren viel über all das, was in diesem Land nicht funktioniert und was es dennoch lebenswert macht. Dabei merke ich, wie empfindlich ich auf seine kritischen Beobachtungen reagiere. Es ist paradox: Bevor Georg kam, war ich die Deutsche in Brasilien, die sich lustig macht darüber, dass es keine Busfahrpläne gibt, die Busfahrer rasen wie Verrückte, die Kassiererinnen miteinander plaudern und in Zeitlupe arbeiten, das Internet im Internetcafé nicht funktioniert und die Drucker in der Druckerei. Jetzt bin ich diejenige, die sich ausgesucht hat, Portugiesisch zu lernen und in diesem Land zu studieren. Und plötzlich fühle ich mich verantwortlich vor ihm für alles, was schief läuft und bin beleidigt, wenn er meine Wahlheimat kritisiert.

Doch weder dieser Umstand noch das regnerische Wetter (es ist inzwischen Winter in Brasilien) können unserer guten Laune etwas anhaben. Wir schauen vom Stadtpark in Niterói der Sonne zu, wie sie hinter dem Zuckerhut verschwindet, spazieren den Strand von Ipanema entlang und klettern auf die dois irmãos („zwei Brüder“), zwei skurril geformte Hügel am Ende der befriedeten Favela Vigidal. Über die Fliesentreppen des chilenischen Künstlers Selarón erreichen wir Rios Bohème-Viertel Santa Teresa und genießen bei einem frisch gepressten Fruchtsaft den Blick auf Rios Zentrum. In Pedra do Sal gehen wir zur Roda de Samba, eine Art Jamsession für Samba-Musik. Jeden Montag versammelt sich dort eine Gruppe von Musikern und beglückt ein internationales Publikum mit Trommelmusik und Gesängen. Der historische Platz ist das Herz der schwarzen Kultur Rios, dort wurde, so heißt es, der Samba erfunden. 

Blick auf Rio vom Stadtpark aus

 
Blick auf Rio von den "zwei Brüdern" aus
Roda de Samba

Fliesentreppe von Selarón

Gemeinsam bereisen wir außerdem die Höhepunkte im Bundesstaat Rio de Janeiro: Die malerische Kolonialstadt Paraty, so nah am Meer gebaut, dass die Kopfsteinpflaster-Gassen regelmäßig überschwemmt werden, die grüne Insel Ilha Grande, die Strände, Berge und Wälder zu bieten hat und das Hippiedorf Sana, voller Wasserfälle und Wanderpfade.

Paraty

In unserer Unterkunft in Paraty schalten wir den Fernseher ein: eine kleine Kultur-Lektion. Abends laufen Telenovelas, kitschige und billig produzierte Sendungen mit den immer gleichen Schauspielern, die täglich über einige Monate laufen, bis alle potenziellen Paare sich bekommen haben. Manche Novelas behandeln auch soziale und politische Themen wie Rassismus und Klassenunterschiede. Meistens sind die Protagonisten aber hellhäutig und wohlhabend. Als es zum ersten Mal eine schwarze Protagonistin gab, war das eine kleine Sensation. Die Serien gehören zum Alltag der Brasilianer: In den Bussen laufen neben Nachrichten, Horoskop und Wetterbericht auf kleinen Bildschirmen auch die „Zusammenfassung der Novelas“ und mehrere Zeitschriften sprechen nur über die Stars der Sendungen.

Morgens hingegen laufen im Fernsehen Aufnahmen von Gottesdiensten der Freikirchen. 35.000 solcher Kirchen gibt es heute in Brasilien. In den letzten Jahren haben sie enormen Zulauf gehabt. Gaben im Jahr 1960 noch 91 Prozent der Menschen an, katholisch zu sein, waren es 2000 nur noch knapp 74 Prozent. Vor allem die ärmeren Menschen fühlen sich angezogen von den Heilsversprechen und den Event-artigen Messen, bei denen der Pfarrer Lieder über seine Liebe zu Jesus singt und die Menschen sich in Ekstase tanzen. Für dieses Erlebnis geben sie bis zu zehn Prozent ihres Einkommens an die Kirche ab, weswegen diese Einrichtungen von vielen Brasilianern scharf kritisiert werden.

Selbst im winzigen Sana kommen wir an einer gut besuchten Igreja Universal de Deus („Universalkirche Gottes“) vorbei. „Die sind nur dazu da, den Armen das letzte bisschen Geld wegzunehmen“, sagt unser Wanderführer, als ich ihn nach der Kirche frage. Während er uns zum höchsten Gipfel Sanas leitet, erzählt er uns vom aufkeimenden Ökotourismus in dem Ort, der in keinem Reiseführer erscheint. Er hofft auf mehr Investitionen in den Tourismus und vor allem darauf, dass die Gegend zum Nationalpark erklärt wird. Dann hätte die Viehzucht und damit die Zerstörung der Natur ein Ende und es würden Gelder in weitere Wanderwege fließen.
 
So könnte er ein vernünftiges Gehalt verdienen als Guide, während er jetzt gerade so über die Runden kommt: Das Wasser in Sana ist so sauber, dass er es aus der Leitung trinken kann, Freunde geben ihm Essen aus ihren Gärten und die Miete in dem Ort ist niedrig. Woanders würde es nicht zum Überleben reichen, erzählt er uns, auch nicht in Niterói, wo er geboren ist. Heute sei dort alles so teuer, dass er nicht länger als drei Tage bleiben könne, wenn er seine Familie besuche, sagt er. „Aber meine Kindheit war toll: Niterói war viel ruhiger und sicherer, die Hochhäuser in Icarai standen vor 20 Jahren noch nicht und es gab fast keine Autos in der Stadt. Ich habe barfuß auf der Straße gespielt und bin auf Bäume geklettert. Unglaublich, wie sich die Stadt seitdem verändert hat.“

Er erzählt Georg und mir, was sich seit seiner Kindheit alles zum Negativen gewandelt habe in Brasilien. Wenn er in die nächstgrößte Stadt fährt, lasse er seine Armbanduhr zu Hause: „Überall musst du Angst haben, überfallen zu werden.“ 

Das Gleiche erzählt uns mein ehemaliger Mitbewohner Pablo. Seine Markenkleidung trägt er nur in seiner Heimatstadt im Bundesstaat von São Paulo und nicht in Rio und Niterói. Die starke Polizeipräsenz in den beiden Städten ändert daran nichts, im Gegenteil. Wie fast alle Brasilianer hat er auch schon eine negative Erfahrung mit einem Polizisten gemacht. Als zwei Typen ihn eines Nachts überfallen wollten und ihm die Nase blutig schlugen, als er sich wehrte, parkte am Ende der Straße ein Polizeiwagen. Der Beamten reagierte auf Pablos Schilderung des Geschehenen mit der  Bemerkung: „Und, soll ich jetzt deine Mutter anrufen oder was?“ „Natürlich habe ich nichts weiter gesagt, sondern bin gleich gegangen. So einer kann dich mit auf die Wache nehmen und dir eine Höllen-Nacht bereiten, wenn er sich von dir provoziert oder beleidigt fühlt“, erzählt Pablo. Er träumt von einem Leben in den USA, hat aber gleichzeitig Angst davor. „Ich habe gehört, die Leute da sind kalt und niemand redet miteinander auf der Straße“, sagt er.

Ein typisches Phänomen in Brasilien: Viele Leute wollen das Land verlassen, können sich aber andererseits nicht vorstellen, woanders zu leben, da sie dort sofort die saudade packen würde, die Sehnsucht, Wehmut oder Melancholie. Ein Wort, für das es keine genaue Übersetzung gibt und das für mich Brasilien repräsentiert wie kein anderes.

Nach zwei wunderschönen Wochen, in denen mein Freund meine Wahlheimat ein bisschen besser verstehen gelernt hat (vollkommen wird das selbst mir nicht gelingen, auch nicht nach einem halben Jahr), bringe ich ihn zum Flughafen. Von jetzt an sind wieder Sehnsucht und Skypen angesagt bis zu meiner Rückkehr nach Deutschland.

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