Um uns herum schmiegen sich einfach zusammengezimmerte Backsteinhäuser und instabil wirkende Barracken an den Hügel. Einige hundert Meter Luftlinie entfernt: Hochhäuser mit Swimmingpools auf dem Dach. „Dieser Punkt ist berühmt bei Fotografen, weil er die soziale Ungleichheit in Brasilien illustriert wie kein anderer“, erklärt uns der Architekturprofessor Gerônimo.
Barracken und Hochhäuser |
die Rocinha von oben |
Noch vor zwei Jahren wäre das ohne Begleitschutz undenkbar
gewesen. Fremde waren nicht gerne gesehen bei den Drogenbossen und wurden ihnen
sofort durch den Späher der Favela gemeldet. Doch das war vor der „Operation
Friedensschock“, mit welcher der Staat die Macht in den Favelas zurückerobern
will. Militärpolizisten stürmen dafür den Hügel, konfiszieren Waffen und Drogen
und nehmen Kriminelle fest.
Im nächsten Schritt besetzt eine andere Polizeieinheit den
Hügel, die UPP („Unidade de Polícia Pacificadora“, auf Deutsch etwa
Befriedungspolizei). Insgesamt 40 Favelas sollen bis zum Jahr 2014 befriedet
werden, die Rocinha war die Nummer 28. Die UPP richtet sich dauerhaft in den
Favelas ein, um den fragilen Frieden im Viertel zu überwachen.
Das geht nur,
wenn die Bevölkerung mit den Militärpolizisten kooperiert, weshalb diese ein
freundschaftliches Verhältnis zu den Bewohnern suchen und soziale Projekte in
der Nachbarschaft fördern. Bei all dem aber sind sie immer uniformiert und
schwer bewaffnet – ein schwieriges Unterfangen also.
UPPs in einem Restaurant in der Favela Vidigal |
UPP-Auto in Vidigal |
Zumal die Favelabewohner aus guten Gründen misstrauisch
sind: Die unterbezahlten Polizisten waren es jahrzehntelang Leid, ihr Leben im
Kampf gegen die Drogenkartelle zu riskieren. Sie kamen nur noch in die Favelas,
um sich das Schmiergeld abzuholen, das die Drogenbosse ihnen dafür zahlten,
ungestört von den Hügeln aus ihre Geschäfte abwickeln zu können. Manchmal kamen
sie auch, um Kriminelle, die es zu weit getrieben hatten, zu erschießen. Dabei
terrorisierten sie oftmals auch die unbeteiligten Bewohner.
Jetzt soll alles anders werden. Die Polizisten sind wieder
die Guten. Der Professor zeigt uns die Orte, an denen der Müll gesammelt wird:
Dank der UPP kommt die Müllabfuhr endlich auch in die Rocinha. Außerdem ließ
die Stadtverwaltung besonders prekäre Häuser abreißen, neue bauen und bunt
bemalen. Für einen symbolischen Betrag dürfen die Menschen hier wohnen, zum
ersten Mal mit einem Mietvertrag und einer offiziellen Anschrift.
neue Häuser in der Rocinha |
Trotz dieser Verbesserungen im Alltag der Favelabewohner
kritisieren viele Aktivisten die Operation Friedensschock. Für sie ist die
Besetzung der Militärpolizisten nichts Neues: in den 90er Jahren formierten einige besonders korrupte Militärpolizisten Milizen und übernahmen
die Macht in manchen Favelas. Sie verdienten ihr Geld mit Transportmitteln und
Kabelfernsehen, boten also Infrastruktur an, wo der Staat sie nicht zur
Verfügung stellte und erpressten Schutzgeld. Wer nicht zahlen konnte, wurde
gefoltert oder umgebracht; die Herrschaft der Milizen war bald gefürchteter als
die der Drogenbosse.
Kabelgewirr in der Rocinha |
Heute ermöglicht die Polizeipräsenz Projekte in der Favela,
die zu Zeiten des Drogenkriegs undenkbar waren. Am Rand der Rocinha entsteht
zum Beispiel ein Naturpark. In den Hang gebaut soll er die Lebensqualität der
Bewohner erhöhen – und verhindern, dass sich die illegalen Siedlungen weiter in
den tropischen Wald von Rio fressen.
neue Park-Anlage in der Rocinha |
Wir sprechen mit einem Mann, der ein kleines Grundstück am
Eingang des Parks besitzt. Er ist begeistert von dem Befriedungsprogramm und
will hier eine Pousada eröffnen, eine
einfache Herberge. Die Pazifizierungen ermöglichen Tourismus in den Favelas,
von denen man oft die atemberaubendsten Ausblicke auf Rio hat und in denen
viele Parties, Konzerte und Ausstellungen organisiert werden. Das gilt
zumindest für die Favelas in der privilegierten Südzone der Stadt. In der
abgelegenen Nordzone hingegen wird bisher nicht „befriedet“ – viele sagen, weil
sich dorthin während der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und Olympia 2016 keine
Touristen verirren werden.
Ausblick auf Rios Strände von der Favela Vidigal |
„A pacificação é para o gringo ver“ – „Die Pazifizierungen sind für die ausländischen Touristen“, hatte mir vor kurzem auch ein junger Brasilianer auf einer Party in Rios Szeneviertel Santa Teresa erklärt. Er behauptete, dass auch die Pazifizierungs-Einheiten korrupt seien, teilweise Schutzgeld von den Slum-Bewohnern erpressen. „Rio befindet sich seit Jahrzehnten im Bürgerkrieg“, sagte er. Weil die Zahl der Toten immer relativ konstant bleibe und es keine dramatischen Medienereignisse wie Anschläge gebe, nehme die Öffentlichkeit das nicht wahr. Ich halte das zwar für etwas übertrieben. Andererseits sind in Rio zwischen den Jahren 1979 und 2000 vier Mal so viele Menschen durch Waffen gestorben wie im Palästinakonflikt in einem zwanzig Jahre kürzeren Zeitraum (1948 bis 1999).
Das alles schwirrt mir im Kopf herum, als wir die
verwinkelten Gassen der Favela
hinabsteigen und wieder auf dem Asphalt ankommen. Morro und asfalto sind
die Schlagwörter, mit denen die beiden parallelen Welten umschrieben werden,
die in Rio existieren. Die Welt des Asphaltes erwartet mich mit einem Kontrast,
wie er größer nicht sein könnte zu dem verschmutzten, ärmlichen Ambiente des
Hügels: Ich begleite den Sohn des Architekturprofessors nach Copacabana, wo er
seinen silberfarbenen Wagen aus der Garage holt. Ein Angestellter in Uniform,
der das Garagentor öffnet und schließt, redet ihn mit „senhor“ an. Im Auto
nimmt der Junge mich mit zurück nach Niterói, seine Freundin ist auch dabei.
Auf der Fahrt sprechen die beiden über die Party, die an diesem Abend an der
Jura-Fakultät steigen wird. Die Rocinha scheint weit weg.
Kurz darauf holt mich die Welt des morros aber doch wieder
ein. In der Zeitung lese ich, dass ein 25-jähriger deutscher Tourist bei einer
Erkundungstour durch die Rocinha angeschossen wurde. Er liegt im Krankenhaus
und schwebt in Lebensgefahr. In manchen Ecken der unübersichtlichen Favela
regieren nach wie vor die Drogenbosse, heißt es in dem Artikel. Der deutsche
Tourist hatte sie wohl bei ihren Geschäften fotografiert.
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