Mittwoch, 7. August 2013

Feiern auf Brasilianisch


Ein gemustertes Kleid mit Schleifen vom Flohmarkt, ein Strohhut und geschminkte Sommersprossen: Das ist meine Verkleidung für die „Festa Junina“, das Juni-Fest auf das Ana, Maria, Sarah, ihr Freund Neto, sein Bruder und ich fahren.

So zurechtgemacht soll ich aussehen wie eine „caipira“, eine Frau aus dem Inland. Denn die Tradition der Juni-Feste kommt von dort. So wie das Oktoberfest im September begangen wird, feiern die Brasilianer den Juni zu großen Teilen im Juli. Also im kältesten Monat des Jahres. Auf den traditionellen Dorffeten werden Glühwein und heiße Schokolade mit Rum ausgeschenkt. Eine Band spielt Sertaneja, eine Art brasilianischer Country (Stichwort: Michel Telós „Nossa, nossa“) und die Caipiras tanzen Quadrilhas, Gruppen-Standardtänze.

Noch vor etwa 20 Jahren feierte an der Küste niemand die Feste aus dem Inland. Die Region galt als rückständig und die jungen Leute tranken lieber Rum oder Whisky (den die Brasilianer übrigens „Uísque“ schreiben) als Cachaça, welche die Caipiras auf dem Land brennen - daher auch der Name Caipirinha.

Heute sind die Cariocas ganz wild auf diese Partys und darauf, sich als Dorfbewohner zu verkleiden – wobei viele eher aussehen, wie amerikanische Cowboys als wie brasilianische Landmenschen. Neto erklärt mein Flohmarkt-Kleid deshalb für das authentischste Kostüm, bevor wir in den Bus steigen, der uns zu einem Landhaus von Freunden seines Bruders bringt.

Bunte Fähnchen schmücken jede Festa Junina

Abgesehen davon, dass die meisten Gäste Jeans, Strohhüte, Karo-Hemden und Stiefel tragen und wir im gewaltigen Garten eines ziemlich eleganten Anwesens feiern, läuft die Party so ähnlich ab wie die meisten Partys in Rio: Es wird viel getrunken und ab Mitternacht läuft Baile Funk, auch Funk Carioca genannt. Auf einen harten Beat rappen oder singen die Musiker gewaltverherrlichende und sexistische Texte. Die weniger harten Lieder dieses Genres schaffen es regelmäßig in die Clubs der reichen Zona Sul und auf Studentenpartys.

Ursprünglich legten DJs den Funk auf riesigen Partys in den Favelas auf, die vor allem dazu dienten, den Drogenverkauf anzukurbeln. In vielen befriedeten Favelas hat die Militärpolizei diese Feste deshalb verboten. Der Baile Funk ist in Rio unterdessen zu einem interessanten Massenphänomen geworden: alle hören ihn gerne und niemand gibt es zu. Unvergesslich ist für mich, wie João auf einer Party auf dem Historiker-Campus laut mitsang und Arme und Hüften schwenkte, während er erklärte: „Diese Musik ist furchtbar, wirklich, die Texte sind ganz schlimm und frauenverachtend. Nur der Beat reißt einen irgendwie mit…“.

Auch auf der Juni-Party tanzen die Freunde und Freundinnen von Neto und seinem Bruder so, wie es die Videoclips vormachen: Mit kreisendem und vibrierendem Hintern geht man in die Knie, runter bis zum Boden („até o chão“), die Mädels meistens mit einer Freundin vor und/oder hinter sich. Eine eindeutig-zweideutige Art zu tanzen, an die ich mich nicht gewöhnen kann. Wenn eine Brasilianerin anfängt, sich scherzhaft an mir zu reiben, werde ich rot und wünsche mir, in der Tanzfläche würde sich ein Loch auftun, in dem ich verschwinden könnte.

Außerdem typisch für brasilianische Partys: Es wird geknutscht – unabhängig von der Musik, die läuft. „Divirtete e beija na boca“, vergnüge dich und küsse auf den Mund, ist eine übliche Redewendung in Brasilien. Feiern heißt flirten und beim Tanzen versuchen die Männer regelmäßig, ihre Tanzpartnerin zu küssen, oft mit Erfolg. Zu mehr kommt es meistens nicht: Junge Brasilianer und Brasilianerinnen wohnen entweder noch bei ihren Eltern oder teilen sich ein Zimmer mit mehreren anderen Studenten. Außerdem haben die Frauen Angst um ihren Ruf – beim Knutschen verliert man den aber offenbar nicht. Als ich neulich mit meinen Mitbewohnerinnen und Freundinnen von ihnen in Lapa unterwegs war, knutschten irgendwann alle, bis auf ein Mädchen und mich. Daraufhin teilten wir beide uns ein Taxi zurück nach Niterói.

Auch auf dem Juni-Fest wird fleißig geküsst, doch es bilden sich auch viele größere Gruppen, die im Kreis tanzen. Ab zwei Uhr morgens wird wieder Country-artige Musik gespielt und ich hüpfe mit den anderen Ringelreihen, einerseits, weil das ziemlich viel Spaß macht und die ausgelassene Stimmung der anderen einfach ansteckend ist und andererseits, weil ich sonst erfrieren würde in diesem Garten in den Bergen am Ende der Stadt.

Eine Freundin von Sarah verlässt in einer kleinen Gruppe die Tanzfläche, sie kehrt grinsend und mit geröteten Augen zurück. Wie auch Sarah arbeitet das Mädchen für eine Nichtregierungsorganisation in einer Favela. Ich frage mich, ob sie nicht mehr tun würde für die Menschen dort, wenn sie in den USA geblieben wäre und keine Drogen in dem Armenviertel kaufen würde – schließlich ist der Drogenhandel und die Herrschaft der Drogenbosse das größte Problem für die Menschen dort.

Doch anstatt eine Diskussion darüber anzufangen, tanze ich noch ein wenig eingehakt mit fremden und bekannten Menschen im Kreis, bevor ich erschöpft und zufrieden in den Bus-Sitz sinke.

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