Ein gemustertes Kleid mit Schleifen vom Flohmarkt, ein Strohhut und geschminkte Sommersprossen: Das ist meine Verkleidung für die „Festa Junina“, das Juni-Fest auf das Ana, Maria, Sarah, ihr Freund Neto, sein Bruder und ich fahren.
So zurechtgemacht soll ich aussehen wie eine „caipira“, eine
Frau aus dem Inland. Denn die Tradition der Juni-Feste kommt von dort. So wie das Oktoberfest im September begangen
wird, feiern die Brasilianer den Juni zu großen Teilen im Juli. Also im
kältesten Monat des Jahres. Auf den traditionellen Dorffeten werden Glühwein
und heiße Schokolade mit Rum ausgeschenkt. Eine Band spielt Sertaneja, eine Art
brasilianischer Country (Stichwort: Michel Telós „Nossa, nossa“) und die
Caipiras tanzen Quadrilhas, Gruppen-Standardtänze.
Noch vor etwa 20 Jahren feierte an der Küste niemand die
Feste aus dem Inland. Die Region galt als rückständig und die jungen Leute
tranken lieber Rum oder Whisky (den die Brasilianer übrigens „Uísque“
schreiben) als Cachaça, welche die Caipiras auf dem Land brennen - daher auch
der Name Caipirinha.
Heute sind die Cariocas ganz wild auf diese Partys und
darauf, sich als Dorfbewohner zu verkleiden – wobei viele eher aussehen, wie
amerikanische Cowboys als wie brasilianische Landmenschen. Neto erklärt mein
Flohmarkt-Kleid deshalb für das authentischste Kostüm, bevor wir in den Bus
steigen, der uns zu einem Landhaus von Freunden seines Bruders bringt.
Bunte Fähnchen schmücken jede Festa Junina |
Abgesehen davon, dass die meisten Gäste Jeans, Strohhüte,
Karo-Hemden und Stiefel tragen und wir im gewaltigen Garten eines ziemlich
eleganten Anwesens feiern, läuft die Party so ähnlich ab wie die meisten Partys
in Rio: Es wird viel getrunken und ab Mitternacht läuft Baile Funk, auch Funk
Carioca genannt. Auf einen harten Beat rappen oder singen die Musiker
gewaltverherrlichende und sexistische Texte. Die weniger harten Lieder dieses Genres schaffen es regelmäßig in die Clubs der reichen Zona Sul und auf
Studentenpartys.
Ursprünglich legten DJs den Funk auf riesigen Partys in den
Favelas auf, die vor allem dazu dienten, den Drogenverkauf anzukurbeln. In
vielen befriedeten Favelas hat die Militärpolizei diese Feste deshalb verboten.
Der Baile Funk ist in Rio unterdessen zu einem interessanten Massenphänomen
geworden: alle hören ihn gerne und niemand gibt es zu. Unvergesslich ist für
mich, wie João auf einer Party auf dem Historiker-Campus laut mitsang und Arme
und Hüften schwenkte, während er erklärte: „Diese Musik ist furchtbar, wirklich,
die Texte sind ganz schlimm und frauenverachtend. Nur der Beat reißt einen
irgendwie mit…“.
Auch auf der Juni-Party tanzen die Freunde und Freundinnen
von Neto und seinem Bruder so, wie es die Videoclips vormachen: Mit kreisendem
und vibrierendem Hintern geht man in die Knie, runter bis zum Boden („até o
chão“), die Mädels meistens mit einer Freundin vor und/oder hinter sich. Eine
eindeutig-zweideutige Art zu tanzen, an die ich mich nicht gewöhnen kann. Wenn
eine Brasilianerin anfängt, sich scherzhaft an mir zu reiben, werde ich rot und
wünsche mir, in der Tanzfläche würde sich ein Loch auftun, in dem ich
verschwinden könnte.
Außerdem typisch für brasilianische Partys: Es wird
geknutscht – unabhängig von der Musik, die läuft. „Divirtete e beija na boca“,
vergnüge dich und küsse auf den Mund, ist eine übliche Redewendung in Brasilien.
Feiern heißt flirten und beim Tanzen versuchen die Männer regelmäßig, ihre
Tanzpartnerin zu küssen, oft mit Erfolg. Zu mehr kommt es meistens nicht: Junge
Brasilianer und Brasilianerinnen wohnen entweder noch bei ihren Eltern oder
teilen sich ein Zimmer mit mehreren anderen Studenten. Außerdem haben die
Frauen Angst um ihren Ruf – beim Knutschen verliert man den aber offenbar
nicht. Als ich neulich mit meinen Mitbewohnerinnen und Freundinnen von ihnen in
Lapa unterwegs war, knutschten irgendwann alle, bis auf ein Mädchen und mich. Daraufhin teilten wir beide uns ein Taxi zurück nach Niterói.
Auch auf dem Juni-Fest wird fleißig geküsst, doch es bilden
sich auch viele größere Gruppen, die im Kreis tanzen. Ab zwei Uhr morgens wird
wieder Country-artige Musik gespielt und ich hüpfe mit den anderen
Ringelreihen, einerseits, weil das ziemlich viel Spaß macht und die ausgelassene Stimmung der anderen einfach ansteckend ist und andererseits,
weil ich sonst erfrieren würde in diesem Garten in den Bergen am Ende der
Stadt.
Eine Freundin von Sarah verlässt in einer kleinen Gruppe die
Tanzfläche, sie kehrt grinsend und mit geröteten Augen zurück. Wie auch Sarah
arbeitet das Mädchen für eine Nichtregierungsorganisation in einer Favela. Ich
frage mich, ob sie nicht mehr tun würde für die Menschen dort, wenn sie in den
USA geblieben wäre und keine Drogen in dem Armenviertel kaufen würde –
schließlich ist der Drogenhandel und die Herrschaft der Drogenbosse das größte
Problem für die Menschen dort.
Doch anstatt eine Diskussion darüber anzufangen, tanze ich
noch ein wenig eingehakt mit fremden und bekannten Menschen im Kreis, bevor ich
erschöpft und zufrieden in den Bus-Sitz sinke.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen