Zwei Helikopter kreisen lärmend am Himmel, werfen Scheinwerfer-Licht auf eine Gruppe von Demonstranten. Um uns herum lauter Polizeiautos und Militärpolizisten in Kampfmontur. „Gegen was demonstrieren die Leute?“, frage ich João, der mit Ana, Maria, Gonzalo aus Argentinien und mir vom Strand zurückkommt. „Die Preiserhöhung bei den Bussen“, antwortet er.
Gelesen hatte ich bereits von gewaltsamen Protesten in São Paulo. Gesehen aber
hatte ich bisher keine Demos; nur Sprüche
wie „20 Centavos mehr: nein“ auf Fassaden geschmiert. Um diesen Betrag wurde der
Ticketpreis im öffentlichen Nahverkehr in verschiedenen Städten Brasiliens erhöht.
Auf der Demo sehe ich Plakate auf denen „não são so 20 centavos“, es
sind nicht nur die 20 Centavos, steht. Denn die Fahrpreiserhöhung ist Auslöser,
gegen viele andere Ungerechtigkeiten aufzubegehren: Die Verschwendung von
gewaltigen Summen bei der Vorbereitung der Fußball-Weltmeisterschaft, das
miserable Bildungs- und Gesundheitssystem, die Korruption in der Politik und
die Polizeigewalt. Dennoch geht es auch um eben diese umgerechnet etwa acht
Euro-Cent. Denn die Verteuerung bedeutet für die Menschen hier etwas ganz
anderes als etwa für mich die alljährlichen Preissteigerungen bei den Berliner Verkehrsbetrieben.
Der Mindestlohn in Brasilien beträgt nämlich 680 Reais
monatlich, das sind um die 235 Euro. Ein Zimmer in einer Wohnung in Rios
Südzone kostet in etwa das Doppelte. Die meisten Menschen verdienen mehr, die
Polizisten, welche die Demonstration überwachen, etwa 880 Euro. Doch
Nahrungsmittel sind teuer in Brasilien und wer seinem Kind eine gute Zukunft
ermöglichen will, schickt es auf eine kostenpflichtige Privatschule. So etwas
wie eine Monatskarte existiert nicht für die öffentlichen Verkehrsmittel in
Brasilien. Wer sich also etwa die Miete in Rio nicht leisten kann und deshalb
von Niterói pendelt, zahlt den Bus zur Fährstation, die Fähre und danach
eventuell noch ein bis zwei andere Busse. So kommen an die hundert Euro im
Monat an Fahrkosten zusammen. Die 20 Centavos können also den Unterschied
zwischen Knappheit und Existenzangst machen.
Die Menschen sind auch deshalb so wütend, weil die
Transportmittel, für die sie mehr bezahlen sollen, so schlecht funktionieren: Die
U-Bahn-Netze von Rio und São Paulo sind miserabel und die Straßen ständig verstopft. Mittags
brauche ich 40 Minuten mit dem Bus von Rio nach Niterói, gegen 18 Uhr kann es
auch einmal zweieinhalb Stunden dauern. In São Paulo beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit
der Autos und Busse zur Rushhour 13 Stundenkilometer.
Die Busse fahren zudem ohne Fahrpläne. Erst konnte ich das
gar nicht fassen, doch ein Fahrplan in einer ständig verstopften Stadt wäre eh
nur eine Schätzung. (Rena erzählt mir die Geschichte von einem Brasilianer, der
in Berlin am Flughafen ankam, die Abfahrtszeit eines Busses - 17.58 Uhr - für
einen schlechten Scherz des Flughafenangestellten hielt und aus allen Wolken
fiel, als er um 18 Uhr zur Haltestelle kam und der Bus abgefahren war.)
Weil es also um mehr geht als 20 Centavos und die Missstände
im öffentlichen Nahverkehr, nehmen die
Proteste zu. Sie breiten sich in ganz Brasilien aus, werden zu den größten seit
dem Ende der Militärdiktatur. In Rio marschieren Hunderttausende durchs Zentrum und auch in São Paulo, Brasilia und Belo Horizonte
versammeln sich in Brasilien zuvor kaum gesehene Massen. Der konservative
„Globo“, Brasiliens größter Medienkonzern, hört auf, von vermeintlichen Chaoten
und Krawallmachern zu berichten und schlägt sich auf die Seite der
Demonstranten, als offensichtlich wird, dass es sich um eine Massenbewegung
handelt. Und die Preiserhöhung wird am 20. Juni zurückgenommen.
"Raus Globo!!!" - Wut über die konservative brasilianische Presse |
Mit meinem Freund Georg, der mich besuchen kommt, schwimme
und wandere ich auf der Ilha Grande,
als die Proteste ihren Höhepunkt erreichen. Freunde aus Deutschland schreiben
mir besorgte Nachrichten: In den deutschen Medien werden die Demonstrationen
und die Polizeigewalt genau verfolgt, ein Jahr vor der WM in Brasilien. Während
dort die Journalisten die Proteste analysieren und sie mit dem arabischen
Frühling, den Protesten in Spanien und der Türkei vergleichen, genießen wir die
Natur. Doch auch zurück auf dem Festland sehen wir nur eine Demo und fragen uns bereits, ob die Medien übertreiben.
Dann aber erzählen uns Sarah und Neto von einer der Demos. Sie sind bei der größten von allen mit
marschiert, 300.00 Menschen waren es insgesamt im Zentrum von Rio auf der Avenida Presidente Vargas. Obwohl die
allermeisten von ihnen friedlich waren, fuhr die Militärpolizei mit gepanzerten
Fahrzeugen auf, kesselte die Teilnehmer ein und attackierte sie brutal mit
Tränengas und Gummigeschossen. Dutzende mussten wegen schwerer Verletzungen ins
Krankenhaus. „Ich habe so etwas noch nie in meinem Leben erlebt, es war die
Hölle“, sagt Sarah. „Als wir mit Tränengas befeuert wurden, wollten wir wegrennen, aber die Militärpolizisten hatten den Weg abgesperrt und sogar U-Bahn-Eingänge abgeriegelt. Eine halbe Stunde lang saßen wir in dem Gasnebel fest und hörten Schüsse.“
Polizeigewalt in Rio, fotografiert von Denis Augusto |
Bei einem Treffen der Nichtregierungsorganisation, bei der sie arbeitet, habe eine Kollegin ihr von einem Gespräch zwischen zwei Globo-Mitarbeitern erzählt, dass diese an einer Tankstelle gehört hatte. Sie hätten geplant, die Demonstration um halb neun zu verlassen, da es danach wohl gewalttätig werden sollte. „Ein klares Zeichen, dass der Staat diese Attacke auf unschuldige Menschen geplant hatte“, sagt Sarah. Später am Abend
eskalierte die Lage tatsächlich, es kam zu Straßenschlachten, Randalierer
zündeten Autos an. In dieser Nacht protestierten brasilienweit fast zwei
Millionen Menschen in mehreren hundert Städten.
Am Tag nach der Eskalation stellt Präsidentin Dilma Roussef
einen Plan für ein besseres Brasilien vor, solidarisiert sich mit den
Demonstranten und verspricht Verbesserungen im öffentlichen Nahverkehr und in
Bildung und Gesundheit. Doch die Menschen geben sich damit nicht zufrieden und
gehen weiter auf die Straße.
Ausschreitungen in Rio, fotografiert von Denis Augusto |
Zunächst scheinen sie alle vereint in ihrer Wut. Die Bewohner der Favela
Rocinha steigen vom morro auf den asfalto herab, um für ihre Rechte zu
protestieren: Ein historischer Augenblick. Und auch Salome, die sonst eher
konservative Ansichten hat, gegen Abtreibung und für die Herabsetzung des
Mindeststrafalters ist, steht voll hinter den Protesten.
Gemeinsam mit ihrer Freundin
Rita erzählt sie Georg und mir von den Forderungen der Protestanten. „Wir fordern bessere
Bildung“, erklärt sie aufgeregt in der ersten Person Plural, obwohl sie auf
keiner Demo war. Außerdem soll dem Mínisterio
Público nicht die Möglichkeit der Strafverfolgung entzogen werden, da das
die korrupte und gefürchtete Polizei stärken würde. Korruption im Kongress soll
endlich kriminalisiert werden, der bereits in mehrere Korruptionsskandale
verwickelte Senatspräsident Calheiros zurücktreten und untersucht werden, wo
die gewaltigen Summen für die Stadionbauten tatsächlich hingeflossen sind. „Endlich
begehren die Menschen gegen all das auf, was schief läuft, statt sich immer nur
zu beschweren. Das ist ein sehr wichtiger Moment für Brasilien“, sagt Salome
stolz.
Ihr ist besonders wichtig, dass Bildung und Gesundheit
verbessert werden in Brasilien. Sie erzählt uns die Geschichte der Angestellten
einer Freundin, deren kleiner Sohn krank war. Im öffentlichen Gesundheitssystem
bekam sie keine Hilfe und war zunehmend verzweifelt, sodass ihre Arbeitgeberin,
die eine private Krankenversicherung besitzt, den Jungen in einem Krankenhaus
als ihren Sohn ausgab.
Anderen Menschen hingegen sind andere Dinge wichtiger: Dass
der verhasste Gouverneur des Staates Rio de Janeiro, Sérgio Cabral, zurücktritt. Oder dass
die
Ärzte besser verdienen sollen. Während die Proteste die Menschen zunächst
zusammen schweißten, beginnen sie jetzt, zu zersplittern. Und auf einmal
wollen die Studenten nicht mehr demonstrieren gehen.
Denn es gehen Gerüchte umher von Faschisten auf den
Manifestationen und davon, dass rechtskonservative Gruppen die Regierung
stürzen wollen. Eine Initiative, die einen kostenlosen Nahverkehr fordert und
die Proteste in São Paulo initiiert hatte, distanziert sich öffentlich von der
Bewegung. Diego erzählt mir: „Auf der letzten Demo waren nur ältere reiche
Weiße, keine Schwarzen, keine Linken, keine Studenten. Sie haben gefordert,
Dilma abzusetzen, dabei ist sie auf der Seite der Demonstranten und will
Brasilien wirklich verändern. Dazu die ganzen Brasilienfahnen und die ‚ohne
politische Parteien‘-Plakate – in meinen Augen nehmen die Proteste eine
merkwürdige Richtung an und ich werde nicht mehr hingehen.“
So wie er halten es viele und die Proteste flauen ab. Vereinzelt kommt es noch zu Demonstrationen, doch es sind jetzt Hunderte und nicht mehr Tausende Teilnehmer, die vor allem die Absetzung der Gouverneure von Rio und São Paulo fordern und dabei oftmals randalieren. Das internationale Medieninteresse lässt nach, bald auch das nationale. Und als der Papst nach Brasilien kommt und in Rio der Zugang zur U-Bahn für Nicht-Pilger eingeschränkt wird, scheint wieder alles wie immer: Es wird geschimpft, aber nichts unternommen und die absurde Situation letztendlich mit Humor betrachtet. Dennoch ist die Stimmung nach den Protesten nicht die gleiche wie zuvor und die Brasilianer sind stolz, aufbegehrt zu haben. Und die Politiker wissen jetzt, dass sie es jederzeit wieder tun können.
Denis Augusto ist ein Bekannter von Rena. Auch sie schreibt einen Blog und hat dort über die Proteste berichtet.
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